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Ignaz Reiss 19370717 Brief an das ZK der Kommunistischen Partei

Brief des Genossen Ignaz Reiss (Ludwig) an das

ZK der Kommunistischen Partei, in Moskau

Paris, 17. Juli 1937

[Nach Der einzige Weg, Zeitschrift für die Vierte Internationale, Nr. 1 (Dezember 1937), S. 18 f.]

Der Brief, den ich Ihnen heute schreibe, war schon längst fällig; er war fällig an dem Tag, an dem «der Vater der Völker» die «Sechzehn» in den Kellern der Ljubjanka ermorden ließ.

Damals habe ich geschwiegen, auch bei den folgenden Morden habe ich meine Stimme nicht erhoben, ich habe damit eine große Schuld auf mich geladen. Groß ist die Schuld, ich werde sie aber gutmachen, schnell gutmachen und mein Gewissen erleichtern.

Bis hierher und nicht weiter. Hier gehen unsere Wege auseinander! Wer jetzt noch schweigt, macht sich mitschuldig, wird zum Komplizen Stalins, zum Verräter an der Sache der Arbeiterklasse und des Sozialismus.

Ich bin mit 20 Jahren ausgezogen, um für den Sozialismus zu kämpfen. Und ich will nicht an der Schwelle des 40-jährigen Jeschows Gnadenbrot essen.

Ich habe 16 Jahre illegaler Arbeit hinter mir, das ist nicht wenig, ich habe aber noch Kraft genug, um nochmals von neuem zu beginnen. Denn um ein «von neuem beginnen» handelt es sich; es geht um die Rettung des Sozialismus! Der Kampf hat längst begonnen und ich will dabei sein.

Der Lärm um die Nordpolflieger soll die Schreie der Gemarterten in den Kellern von Swobodnaja, Minsk, Kiew, Leningrad und Tiflis übertönen. Das wird nicht gelingen! Das Wort, das wahre Wort ist noch immer stärker als der stärkste Motor mit noch soviel PS.

Es ist wahr, die Rekordflieger können leichter die Gunst der amerikanischen Ladies und der sportverblödeten Jugend beider Kontinente erobern, als wir die Weltöffentlichkeit gewinnen und das Weltgewissen aufrütteln! Man täusche sich nicht, die Wahrheit wird das Rennen gewinnen, der Tag des Gerichts ist näher, viel näher als die Herren im Kreml es glauben.

Der internationale Sozialismus wird dann Gericht halten über all die Verbrechen der letzten 10 Jahre. Nichts wird vergessen und nichts wird geschenkt. Geschichte ist eine strenge Dame und der «geniale Führer, Vater der Völker, die Sonne des Sozialismus» wird Rede und Antwort stehen müssen für alle seine Taten. Die verlorene chinesische Revolution, den roten Volksentscheid und die Niederlage des deutschen Proletariats, den Sozialfaschismus und die Volksfront, die Bekenntnisse an Howard und das Liebesgurren um Laval; eine Tat genialer als die andere!

Dieser Prozess wird öffentlich geführt werden mit Zeugen, vielen Zeugen, toten und lebenden, und sie werden alle sprechen, noch einmal sprechen, aber dann die Wahrheit, die einzige Wahrheit. Sie werden alle erscheinen, die unschuldig Gemordeten und Verleumdeten und die internationale Arbeiterbewegung wird sie rehabilitieren, alle die Kamenews und Mratschkowskis, Smirnows und Muralows, die Drobnis’ und Serebrjakows, Mdiwanis und Okudschawas, Rakowskis und Nins. all die «Spione und Diversanten, Gestapoagenten und Saboteure».

Soll die Sowjetunion und mit ihr die internationale Arbeiterbewegung nicht endgültig ein Opfer der offenen Konterrevolution und des Faschismus werden, so muss die Arbeiterbewegung ihre Stalins und den Stalinismus überwinden. Dieser Mischmasch, aus schlimmstem, weil prinzipienlosem Opportunismus, mit Blut und Lügen droht die Welt zu verpesten und die Reste der Arbeiterbewegung zu vernichten.

Dem Stalinismus gilt der schärfste Kampf.

Nicht Volksfront sondern Klassenkampf; keine Diplomatenränke sondern Intervention der Arbeiterschaft zur Rettung der spanischen Revolution, das ist das Gebot der Stunde!

Weg mit der Lüge des Sozialismus in einem Lande und zurück zum Internationalismus Lenins!

Aber für diese historische Aufgabe ist weder die 2. noch die 3. Internationale fähig; zersetzt und korrumpiert, können sie nur die Arbeiterschaft vom Kampfe abhalten; sie sind nur noch gut genug, um den Hilfspolizisten für die Bourgeoisie zu spielen. Welche Tragik der Entwicklung; früher stellte die Bourgeoisie die Cavaignacs und Gallifetts Trepows und Wrangels aus eigenen Reihen und jetzt unter glorreicher Führung beider Internationalen besorgen Proleten die Henkerarbeit an ihren Kameraden. Die Bourgeoisie kann ruhig ihren Geschäften nachgehen; es herrscht wieder «Ruhe und Ordnung»; es gibt noch Noskes und Jeschows, Negrins und Diaz’. Stalin ist ihr Führer und Feuchtwanger sein Homer.

Nein, ich mache nicht mehr mit. Ich nehme mir meine Freiheit wieder. Ich will zurück zu Lenin, zu seiner Lehre und Tat.

Ich will meine bescheidene Kraft in den Dienst seiner Lehre stellen; ich will kämpfen und nur unser Sieg – die proletarische Revolution – wird die Menschheit vom Kapitalismus und die Sowjetunion vom Stalinismus befreien.

Vorwärts zu neuen Kämpfen für den Sozialismus und die proletarische Revolution! Auf zur Gründung der 4. Internationale.

Ludwig

P. S. Im Jahre 1928 wurde mir für die Verdienste um die proletarische Revolution der Orden der «Roten Fahne» verliehen. Hiermit stelle ich Ihnen den Orden zur Verfügung. Es ist unter meiner Würde, ihn gleichzeitig mit Henkern der Besten der russischen Arbeiterklasse zu tragen. (In der «Iswestija» der letzten 14 Tage wurden Dekorierte namentlich angeführt, unter schamhaftem Verschweigen ihrer Funktion, die nichts anderes tun als Urteile vollstrecken).

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