Der
„Brief
von Marx“
wurde Ende 1877 geschrieben und war an den Redakteur der
„Otjetschestwennyje
Sapiski“
(Vaterländische Aufzeichnungen) gerichtet. Er war der Frage
gewidmet, ob Russland die kapitalistische Entwicklung durchmachen
muss, oder ob es unter Vermeidung dieses Weges direkt zum Sozialismus
kommen wird. Der Brief wurde aus Anlass eines im Oktober desselben
Jahres in dieser Zeitschrift erschienenen Artikels des Narodnik
N. K. Michailowski:
„Karl Marx vor dem Richterstuhl des Herrn J. Schukowski“
geschrieben, der wiederum eine Antwort auf eine Kritik des
bürgerlichen Ökonomen Schukowski an Marx' „Kapital“
war. Da aber Marx von einem seiner russischen „gelehrten Freunde“
versichert wurde, dass dieser Brief in keiner russischen Zeitschrift
abgedruckt werden könne, unterließ Marx die Absendung. Der Brief
wurde in seinen nachgelassenen Papieren gefunden und noch 1883 von
Engels
an G. A. Lopatin
zur Veröffentlichung in irgendeiner russischen Zeitschrift
übergeben. Die Veröffentlichung erfolgte zum ersten Male im Jahre
1886 im „Wjestnik Narodnoj Woli“ („Anzeiger des Volkswillens'',
Organ der Partei „Volkswille"), dann im Oktober 1888 im
„Juriditscheski
Westnik“
(Juristischer Anzeiger) und später in einer von Lopatin im Jahre
1908 herausgegebenen Broschüre zusammen mit den Briefen von Karl
Marx und Friedrich Engels an N.-on.
Marx schreibt in diesem Briefe: „Im Nachwort zur zweiten deutschen
Ausgabe des .Kapital' spreche ich von einem
„großen russischen Gelehrten und Kritiker“
mit jener Hochachtung, die er verdient. Dieser Gelehrte untersuchte
in seinen bemerkenswerten Artikeln die Frage, ob Russland, um zum
kapitalistischen System überzugehen, mit der Vernichtung der
bäuerlichen Dorfgemeinschaft anfangen soll, wie das die liberalen
Ökonomisten verlangen, oder ob es sich im Gegenteil, ohne alle
Leiden dieses Systems durchzumachen, alle seine Früchte auf dem Wege
der Entwicklung seiner eigenen historischen Gegebenheiten aneignen
kann. Er spricht sich im Sinne der zweitgenannten Entscheidung aus“.
– Der Frage der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung Russlands
widmeten Marx und Engels noch eine Reihe weiterer Briefe und Artikel
(so z. B. auch das Vorwort
zur russischen Ausgabe
des Kommunistischen
Manifests
vom Jahre 1882). In allen diesen Arbeiten sprachen sie sich in dem
Sinne aus, dass die bäuerliche Dorfgemeinschaft in Russland, wenn
sie nicht weiter zerstört wird – und sie wurde damals schon stark
zerstört – eine Stufe zum Sozialismus darstellen kann. Mit anderen
Worten, wenn Russland nicht den Weg der kapitalistischen Entwicklung
einschlägt, dann kann es auf der Grundlage der bäuerlichen
Dorfgemeinschaft zum Kommunismus kommen. Als notwendige Vorbedingung
dazu betrachteten sie die sozialistische Revolution im Westen und den
Sturz des Absolutismus in Russland. Zugleich aber setzten Marx und
Engels hinzu, dass Russland schon große Schritte in der Richtung zum
Kapitalismus gemacht habe. Im Jahre 1892 schrieb Engels an N.–on:
„Ich kann nun nicht einsehen, inwiefern die Resultate der
industriellen Revolution, die in Russland vor unseren Augen sich
abspielt, in irgendeiner Beziehung von denen verschieden sind, die
sich in England, in Deutschland, Amerika zeigen oder gezeigt haben".
– Die Narodniki bemühten sich, den Brief von Marx als Bestätigung
der Richtigkeit ihrer Ansichten auszulegen. Sie verstanden nicht den
Gedankengang von Marx und Engels, die von der Möglichkeit einer
nichtkapitalistischen Entwicklung der zurückgebliebenen Länder mit
vorkapitalistischer Wirtschaftsordnung nur im Falle des Sieges der
proletarischen sozialistischen Revolution in den großen
kapitalistischen Ländern gesprochen hatten. Diesen Gesichtspunkt
entwickelte und vertiefte Lenin
später (siehe auch das Programm der Kommunistischen Internationale). [Ausgewählte Werke, Band 1] |
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