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II. Tagung der Volkswirtschaftsräte

Die II. Tagung der Volkswirtschaftsräte, auf der Lenin die vorliegende Rede hielt, versammelte sich zu einer Zeit (in der zweiten Dezemberhälfte 1918), als die Sowjetrepublik sich nur auf einem verhältnismäßig kleinen Territorium hatte behaupten können und von allen Seiten von Fronten und konterrevolutionären Aufständen umgeben war, die seit dem von der Entente im Mai 1918 organisierten Aufstand der Sozialrevolutionäre und der Tschechoslowaken unaufhörlich aufflammten. Die Folge davon war, dass sich das Donezbecken, das 90 Prozent der Brennstoffe lieferte, sowie Baku, das 400 Millionen Pud Erdöl liefern konnte, und der Ural mit einer Förderung von 90 Millionen Pud Kohle außerhalb der Grenzen der Sowjetrepublik befanden. Die Abtrennung der Ukraine und des Urals nahm Sowjetrussland die Möglichkeit der Metallgewinnung, und darum musste der Bau von Lokomotiven und Waggons eingestellt werden. Die Ernährungslage spitzte sich außerordentlich zu, da die Getreidegouvernements der Ukraine, des Nordkaukasus und Sibiriens sich in den Händen der Konterrevolution befanden. Ließ man den Bauern der landwirtschaftlichen Überschussgouvernements zwölf Pud Getreide pro Kopf im Jahr, und den Bauern der Zuschussgebiete 7½ Pud, so fehlten Sowjetrussland nach vorsichtigsten Berechnungen für die Versorgung der Arbeiterzentren und der Roten Armee 53 Millionen Pud Getreide. Dabei wurde die wirtschaftliche Lage und insbesondere die Ernährungslage der Arbeiter durch die Desorganisation des Warenaustausches zwischen Stadt und Land verschärft. Die ungeregelte Versorgung der werktätigen Bevölkerung mit Bedarfsgegenständen und der Fabriken mit Roh- und Brennstoffen war einer der Hauptmängel der Organisation der Wirtschaft. So erreichten insgesamt nur 12 Prozent der Textilwaren und 40 Prozent der Streichhölzer, die von der Regierung für die Bevölkerung bestimmt waren, ihren Bestimmungsort. Die Waggons mit Stoffen, Metallfabrikaten, Leder und anderen Waren, die zum Austausch gegen Getreide ins Dorf gesandt wurden, wurden mitunter an den Bestimmungsorten monatelang nicht ausgeladen. Waren, die im Austausch gegen Getreide für das Dorf bestimmt waren, wurden manchmal an die städtische Bevölkerung verteilt oder den Bauern für Geld verkauft.

Alle diese ungeheuren wirtschaftlichen Schwierigkeiten konnte man nur durch straffste Zentralisierung der Industrie-Verwaltung und der Versorgung der Industrie mit Roh- und Brennstoffen sowie Lebensmitteln auf Grund der größten Sparsamkeit und Planmäßigkeit einerseits und durch eine Verbesserung des Warenaustausches mit dem Dorfe anderseits überwinden. Wurde das durchgeführt, so bedeutete die Einschrumpfung des Territoriums der RSFSR noch keine Katastrophe für die Industrie. Die vorhandenen Erdölvorräte, die Kohlengewinnung im Moskauer Braunkohlenrevier, die Torfgewinnung, die Holzaufbringung sowie die Möglichkeit der Ausfuhr des in Grosny verbliebenen Erdöls gaben dem Genossen Miljutin, dem Referenten über die „Weltlage und die ökonomische Lage Russlands", auf dieser Tagung den Anhaltspunkt für die Schlussfolgerung, dass „das Jahr 1919 mit gewissen Einschränkungen mit Brennstoffen versorgt sein wird“.

Über die Metallvorräte sagte derselbe Referent: „Benötigt werden jetzt 34 Millionen Pud Metall, ermittelt wurden 38 Millionen Pud, d. h. also, dass der Metallbedarf des Jahres 1919 gedeckt werden kann“.

Durch Ersatz der mangelnden Baumwolle durch Flachs glaubte man auch „die Textilindustrie im Jahre 1919 voll befriedigen" zu können.

Hatte sich der erste Kongress der Volkswirtschaftsräte mit dem Übergang von der „Arbeiterkontrolle“ zur Arbeiterverwaltung befasst, so war dieser Übergang zur Zeit der zweiten Tagung im Großen und Ganzen beendet. In der Zeitspanne, die zwischen dem ersten und dem zweiten Kongress der Volkswirtschaftsräte lag, war die Nationalisierung der Großindustrie im Großen und Ganzen abgeschlossen. Die Zahl der nationalisierten Betriebe war von 304 auf 1125 gestiegen. Auch der Privathandel war nationalisiert, was die Politik der Preisfestsetzung durch den Staat erleichterte.

Die Erfolge auf dem Gebiet der Organisierung der nationalisierten Industrie und des Volkshandels machten die Ausarbeitung eines einheitlichen Wirtschaftsplans im Jahre 1919 aktuell. In den Resolutionen der zweiten Tagung der Volkswirtschaftsräte lesen wir: „Gegenwärtig, angesichts der zu Ende gehenden Nationalisierung der ganzen Industrie, der Zentralisierung der Wirtschaftsverwaltung des Landes im Obersten Volkswirtschaftsrat und in den lokalen Volkswirtschaftsräten sowie der in großem Umfang durchgeführten Rechnungslegung über die Rohstoffe und Fertigfabrikate, die nationalisiert und in staatlichen Lagern aufgespeichert sind, ermöglicht es die Organisierung der Produktion nach sozialistischen Grundsätzen, für 1919 einen einheitlichen Wirtschaftsplan auszuarbeiten und das neue Programm der ökonomischen Maßnahmen auf dem Gebiet der Landwirtschaft, der Industrie und der Versorgung systematisch durchzuführen“. Es gelang jedoch erst im März 1920, zur Zeit des IX. Parteitag, an diese Aufgabe heranzugehen, und der VIII. Sowjetkongress im Dezember 1920 prüfte diesen einheitlichen Wirtschaftsplan, der auf der Elektrifizierung des Landes aufgebaut war (Plan der Staatlichen Kommission zur Elektrifizierung Russlands).

Die Beendigung des Übergangs zur Arbeiterverwaltung in der Industrie rollte auch die Aufgabe der Verbesserung dieser Verwaltung in ihrem ganzen Umfang auf. Diese Aufgabe lief auf die Besetzung der Leitungen der Hauptverwaltungen durch Arbeiter und auf dem Übergang zum Prinzip der Alleinverantwortung jedes Mitglieds des Kollegiums für seine Arbeit hinaus. Lenin sagte in seiner Rede auf der zweiten Tagung der Volkswirtschaftsräte darüber folgendes: „Wir werden unnachsichtig verlangen, dass jeder Mitarbeiter eines Volkswirtschaftsrates, jedes Mitglied einer Hauptstelle wisse, für welchen genau begrenzten Wirtschaftszweig es die Verantwortung trägt“.

Der Kriegszustand, die beschränkten Vorräte an Brennstoffen, Rohstoffen und Lebensmitteln machten eine verstärkte Zentralisierung der Verwaltung und den Kampf gegen den wirtschaftlichen Partikularismus erforderlich. Eine der Maßnahmen der zweiten Tagung der Volkswirtschaftsräte in dieser Richtung bestand in folgendem: „Der zweite Allrussische Kongress der Volkswirtschaftsräte stellt angesichts der Erstarkung des zentralen Apparats der Wirtschaftsbehörden fest, dass die Gebietsvolkswirtschaftsräte als Zwischenglieder zwischen dem Zentrum und den lokalem Volkswirtschaftsräten heute eine überflüssige Institution sind, die das allgemeine System der ökonomischen Wechselbeziehungen komplizieren und den weiterem Prozess der planmäßigen Zentralisierung erschweren.“

Die Verbesserung des Systems der zentralisierten Arbeiterverwaltung in der Industrie konnte jedoch zu einem wirklichen Ausweg aus den wirtschaftlichen Schwierigkeiten nur dann führen, wenn ein anderer Hauptmangel in der Organisation und Verwaltung der Wirtschaft behoben wurde, nämlich die Desorganisation der Rohstoff- und Brennstoffversorgung, der Lebensmittelversorgung der Arbeiter und der Belieferung der Bauernmassen mit Fertigfabrikaten (innerhalb der Grenzen des damals Möglichen) – Mängel, die in dem schwachen Warenaustausch mit dem Dorf wurzelten.

Deshalb sieht Lenin in seiner Rede auf der zweiten Tagung der Volkswirtschaftsräte die Hauptaufgabe in einer derartigem Organisation der wirtschaftlichen Tätigkeit, „dass der Warenaustausch bei uns richtig funktioniert“. „Darin liegt jetzt die ganze Aufgabe“, sagt er. Wenn man dabei im Auge behält, dass Lenin in derselben Periode mit besonderer Schärfe und Deutlichkeit die Losung des Bündnisses mit den Mittelbauern aufstellt (siehe den Artikel „Wertvolle Eingeständnisse Pitirim Sorokins“), so muss zweifellos die Betonung der Aufgabe, den Warenaustausch zu organisieren, mit dieser Losung des Bündnisses mit dem Mittelbauern in direkten Zusammenhang gebracht werden. Hier muss erwähnt werden, dass gerade gegen Ende des Jahres 1918 folgende Dekrete erlassen wurden: 1. Das Dekret des Allrussischen Zentralexekutivkomitees vom 30. Oktober 1918 „Über die Entrichtung einer Naturalsteuer durch die Landwirte“, 2. die am 22. Dezember 1918 veröffentlichte Instruktion des Volkskommissariats für Finanzen über diese Steuerumlage und 3. die vom 23. Dezember 1918 datierte Verordnung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees „Über die Naturalsteuer“. Somit wurde Ende 1918 nach der Losung des Bündnisses mit dem Mittelbauern die Losung der Warenzirkulation zwischen Stadt und Land auf der Grundlage der Naturalsteuer aufgestellt, d.h. jene Losung, die 1921 im einer anderem Situation und in entsprechend veränderter Form beim Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik durchgeführt wurde. Gerade zur Zeit dieses Übergangs erinnerte Lenin auf dem X. Parteitag an die Maßnahmen, die gegen Ende des Jahres 1918 ergriffen wurden. Im Bericht über die politische Tätigkeit des ZK sagt er u. a.: „Die Frage der Naturalsteuer und der Zwangsumlage wurde bei uns in der Gesetzgebung schon längst, schon seit Ende 1918 gestellt. Das Gesetz über die Steuer ist vom 30. Oktober 1918 datiert. Dieses Gesetz, das die Naturalbesteuerung der Landwirte einführt, wurde angenommen, ohne jedoch in die Tat umgesetzt zu werden. Auf seine Veröffentlichung folgten im Laufe einiger Monate mehrere Instruktionen, doch wurde das Gesetz bei uns nicht angewandt.“ Und Lenin setzt gleich auseinander, warum dies so kam. Dies kam daher, weil „die Beschlagnahme der Überschüsse der Bauernwirtschaften“, d. h. die Zwangs-Lebensmittelumlage an Stelle der Naturalsteuer, eine Maßnahme war, die „uns durch die Kraft des Kriegszustandes mit absoluter Notwendigkeit aufgezwungen wurde“. Diese „Kraft des Kriegszustandes“ führte bereits im Januar 1919 zum Erlass eines Dekrets des Rates der Volkskommissare „Über die Zwangsumlage für Getreide und Futtermittel in den landwirtschaftlichen Überschussgouvemements“. Gleichzeitig mit der Einführung der Zwangsumlage an Stelle der Naturalsteuer wird auch die Erfüllung der Aufgabe, den Warenaustausch zwischen Stadt und Land in Gang zu bringen, die Lenin in den Mittelpunkt der zweiten Tagung der Volkswirtschaftsräte stellte, durch dieselbe „Kraft des Kriegszustandes“ vereitelt. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 8]

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