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Debatte zwischen Rosa Luxemburg und Kautsky

Im Jahre 1896 veröffentlichte Rosa Luxemburg in der „Neuen Zeit", der theoretischen Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie, zwei Artikel über die sozialistische Bewegung in Polen: „Neue Strömungen in der sozialistischen Bewegung in Deutschland und Österreich" (Neue Zeit, 14. Jahrgang, II. Band, 1895/96, Nr. 32 und 33) und „Der Sozialpatriotismus in Polen" (Neue Zeit, 14. Jahrg., II. Bd., 1895/96, Nr. 41). In diesen Artikeln kritisierte Rosa Luxemburg die Stellung der PPS zur nationalen Frage und trat gegen die Losung der Unabhängigkeit Polens als eine in ihrem Charakter utopische und bürgerlich-nationalistische Losung auf. Rosa Luxemburg ging in ihren Anschauungen von der Theorie des „organischen Hineinwachsens" Polens in die Ökonomie Russlands aus. Unter den Verhältnissen der Herrschaft des Kapitalismus, schrieb Rosa Luxemburg, sei die Forderung der Unabhängigkeit Polens nicht zu verwirklichen, denn die polnische Bourgeoisie sei ein Stützpunkt der Annexion Polens durch Deutschland, Österreich und Russland. „Um also die Unabhängigkeit Polens zu erobern, müsste das Proletariat nicht nur die Gewalt der drei mächtigsten Regierungen Europas brechen, sondern auch stark genug sein, die materiellen Lebensinteressen seiner Bourgeoisie zu bezwingen ist das polnische Proletariat einmal imstande, die Wiederherstellung Polens trotz der Regierungen der Annexionsstaaten und der polnischen Bourgeoisie durchzusetzen, dann wird es auch imstande sein, die sozialistische Umwälzung in Angriff zu nehmen… somit erweist sich das Programm der Sozialpatrioten vom Standpunkt seiner Realisierbarkeit aus als ebenso utopisch, wie es seiner theoretischen Konstruktion nach ist…" Aus allen diesen Gründen sei die Unabhängigkeit Polens mit dem Kampfe für die Endziele des Proletariats verbunden. Vom ökonomischen Standpunkte aus sei daher die Lostrennung Polens von Russland und die Unabhängigkeit Polens eine reaktionäre Losung und gleichbedeutend mit dem Bestreben, den unvermeidlichen ökonomischen Prozess der wirtschaftlichen Verschmelzung Polens und Russlands aufzuhalten. „Die gekennzeichnete Richtung der sozialen Entwicklung hat es mit sich gebracht, dass es in Polen jetzt keine Gesellschaftsklasse gibt, die ein Interesse an der Wiederherstellung Polens und zugleich die Kraft hätte, dieses Interesse zur Geltung zu bringen."

Als Antwort auf die Artikel Rosa Luxemburgs veröffentlichte Karl Kautsky in Nr. 42 der „Neuen Zeit" (14. Jahrg., II. Bd., 1895/96 Nr. 42 und 43) einen Artikel mit der Überschrift „Finis Poloniae?" („Polens Ende?"), in welchem er die Argumentation Rosa Luxemburgs gegen die Losung der Unabhängigkeit Polens einer ausführlichen Kritik unterzog, wobei er zeigte, dass die Losung der Unabhängigkeit Polens gegen den zaristischen Absolutismus in Russland gerichtet und mit dem Siege der russischen Revolution verknüpft ist. Ökonomisch sei die Losung nicht reaktionär, denn die Zeit, wo die polnische Industrie sich auf Grund des inneren Marktes in Russland frei entwickeln konnte, sei vorbei. „Während in Polen die Industrie sich rapid entwickelte, erwuchs ihr ein mächtiger Konkurrent in Russland selbst, und zwischen den beiden Rivalen entspinnt sich ein wütender Kampf um den russischen und asiatischen Markt." Soweit die Klassenkräfte in Betracht kommen, die hinter der Forderung der Unabhängigkeit Polens stehen, so sympathisieren mit ihr das städtische Kleinbürgertum, die Intellektuellen und die Bauernschaft, die unter der Steuerlast der zaristischen Regierung und unter der Konkurrenz des russischen Getreides auf dem polnischen Markte zu leiden habe. Kautsky hob hervor, dass Rosa Luxemburg die politische Rolle des Kleinbürgertums und der Bauernschaft unterschätze, wenn sie sie für eine politisch nichtige Größe halte.

Zu einem der Hauptargumente Rosa Luxemburgs, wonach die Losung der Unabhängigkeit Polens die Sozialdemokratie ins Schlepptau des kleinbürgerlichen Nationalismus bringe, bemerkte Kautsky, dass die polnischen Sozialdemokraten in ihrem Bestreben, die Reinheit der Prinzipien des Marxismus zu wahren und der Gefahr des Erliegens gegenüber dem kleinbürgerlichen Nationalismus zu entgehen, riskieren, in eine noch größere Gefahr zu geraten: die Geschäfte der Unterdrücker Polens, des russischen Zarismus zu besorgen. „Die antinationalen Sozialdemokraten Polens, die sich lieber der Gefahr aussetzen, dem Zaren zu nützen, als der Gefahr, der kleinbürgerlichen Demokratie Vorschub zu leisten, erinnern uns an manche englischen Sozialisten, die, ebenfalls mit Berufung auf Materialismus und Marxismus, für die Tories (die Konservativen. Die Red.) stimmten, damit die Reinheit ihrer Prinzipien ja nicht in Gefahr komme, durch bürgerlichen Radikalismus verdorben zu werden. Die Erfahrungen dieser englischen Sozialisten sollten die polnische Sozialdemokratie gerade nicht ermutigen, ein ähnliches Experiment auf dem viel schlüpfrigeren Boden des russischen Absolutismus zu versuchen". [Band 17]

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