Redaktion 19171013 Politische Übersicht

Redaktion: Politische Übersicht

[Nach Bote der Russischen Revolution. Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) Nr. 5, 13. Okt. 1917, S. 15 f.]

Die bolschewikische Welle

Das Djelo Naroda, das Zentralorgan der ministeriellen Partei der Sozialisten-Revolutionäre, schreibt über das Wachstum des bolschewikischen Einflusses:

All die Unterdrückung, Verleumdung, blödsinnige Anklagen wegen Verrats, Anklagen, die man dann fallen lassen musste, die ganze Hetze, das alles hat die Bolschewiki mit dem Nimbus des Martyriums in den Augen der breiten Arbeitermassen umgeben. Alles das hat den Bolschewiki im arbeitenden Volke keinen schlechten, sondern einen guten Ruf erzeugt und für alles das zahlen jetzt wir – die Sozialisten-Revolutionäre. Der Bolschewismus ist stärker geworden. Das unterliegt keinem Zweifel. Das geschieht nicht so, wie es die bürgerliche Presse darzustellen sucht. Seine Erstarkung geht keinesfalls vor sich auf diese Weise, als ob es ihm gelingen sollte, die Soz. Rev. und die Menschewiki sich zu unterwerfen, alle revolutionären Elemente aufzusaugen. Der Bolschewismus erstarkt auf Kosten der sich um die Soz. Rev. und Menschewiki gruppierenden Volksmassen.. Diese Tatsache unterliegt keinem Zweifel. Das Petrograder Proletariat steht jetzt fast voll und ganz (potschti splosch) hinter den Bolschewiki. Die Wahlen in Petrograd haben das gezeigt. Zirka 200 Tausend Stimmen, das ist kein Spiel, das spricht eine überzeugende Sprache. Und jetzt die Provinz. Eben die letzten Tage bringen die Nachrichten über die Wahlsiege der Bolschewiki in Reval, Zarizyn, Oriechow–Zujew, Iwanowo-Wosnessensk, Twer und anderen Städten. Die Siege kann man nicht anders nennen als glänzend, da die Bolschewiki hier ein paar Mal über die Soz.-Rev. und Menschewiki zusammengenommen gesiegt haben. Aber das sind Siege in Arbeiterbezirken. Nun auch die Wahlen zum Moskauer Kreissemstwo, Semstwowahlen in verschiedenen Kreisen des Gouvernement Perm gaben den Bolschewiki unerwartete Siege; Siege, denn wenn die Bolschewiki, die bisher unter den Bauern keine Anhänger hatten, ein Drittel der Mandats erobern, so kann man das nicht anders als Sieg nennen …

In den Arbeiterkreisen spricht man schon lange direkt und offen von der Diktatur, als einer entschiedenen Sache, Man spricht von dem Kampf um den Frieden, der dank den Bemühungen Tereschtschenkos eine Phrase, ein stinkender Leichnam, wurde. Dort spricht man von der Todesstrafe … Dort spricht man von den empörenden Ernennungen der letzten Zeit, von Alexejew (der zarische General, der nach der Schilderhebung Kornilows von Kerenski zum Oberbefehlshaber ernannt wurde, obwohl er früher auf Forderung des Sowjets demissionieren musste. Red.) Palczynskis (Palczynski, der auf Forderung des Sowjet wegen seiner arbeiterfeindlichen Tätigkeit aus dem Handelsministerium ausscheiden musste, wurde von Kerenski zum Gouverneur von Petrograd ernannt), Sawinkow, Kornilow, dort spricht man vom vielen, worauf uns unser Gewissen nicht erlaubt irgend was zu antworten."

So das Djelo Naroda in einem Artikel gegen die Bolschewiki.

Lenin und Kaledin

Der Petrograder Sowjet überwies seine Vertretung auf der demokratischen Konferenz unter anderen unseren Genossen. Lenin und Sinowjew, die angeklagt sind der Organisation der Juliunruhen nicht nur auf Geheiß der deutschen Regierung, sondern sogar in ihrem Solde. Der Sowjet versetzte damit den schurkischen Verleumdern eine schallende Ohrfeige. Herr Kerenski, der ausgezeichnet weiß, dass die Anklagen seiner Justizbeamten gewöhnliche Verleumdungen sind, dass zu ihrer Unterstützung das Justizministerium keine einzige Tatsache besitzt – es lässt jetzt sogar die Prokuristin Sumenson unter Kaution frei, die den ganzen Geldverkehr mit Deutschland geregelt haben soll1 – steckte die Ohrfeige nicht ruhig ein, sondern gab die Order, Lenin und Sinowjew zu verhaften, falls sie sich in Petrograd zeigen sollten.

Gleichzeitig lauft der Kosakengeneral Kaledin, gegen den ein Haftbefehl wegen Teilnahme an der Kornilowschen Erhebung erlassen wurde, nicht nur frei herum, sondern er verhandelt mit den Vertretern des Herrn Kerenski.

Die Bolschewiki machten Herrn Kerenski kein Gefallen, sie gaben ihm die Möglichkeit nicht, Lenin und. Sinowjew zu verhaften. Aber die Arbeiter werden es Herrn Kerenski noch heimzahlen, dass er nicht in der Stunde der Gefahr, der Verwirrung, wie man anfangs annehmen konnte, sondern kühl, berechnet die Ehre der besten Männer des Proletariats besudelt. Als Eugen Richter, der Führer der deutschen Liberalen, schon sterbend in einem Artikel alte Führer der deutschen Arbeiterklasse besudelte, überschrieb Franz Mehring, der Historiker der Deutschen Sozialdemokratie, die Antwort an ihn: Ein Strolch noch im Sterben. Herr Kerenski kokettierte mit dem Tode öffentlich wie er jetzt mit seiner Scheidung kokettiert Er liegt nicht im Sterben. Wir können deshalb die Mehringsche Überschrift nicht wählen.

1 Wohlgemeint: die Schergen des Herrn Kerenski geben diese arme unschuldige Frau frei, nachdem sie ihr die Gesundheit geraubt haben. Die Rjetsch meldet nämlich, dass Frau Sumenson freigelassen wurde, weil ihr Leben bedroht ist. Würde der geringste Beweis bestehen, dass Frau Sumenson deutsches Geld den Bolschewiki geliefert hätte, dann könnte doch das Justizministerium auf ihre Gesundheit keine Rücksicht nehmen. Die Dreyfusiards fürchten das Leben einer unschuldigen bürgerlichen Frau auf sich zu nehmen: sie lassen sie frei, aber damit beweisen sie ihre eigene Schuld.

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