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Liberale Opposition 1904

Unter dem Eindruck der sich verstärkenden revolutionären Gärung im Lande (Bauernunruhen 1902, Massenstreiks der Arbeiter 1903) und auch infolge des Anwachsens der oppositionellen Stimmungen in der Bourgeoisie und im liberalen Adel sah sich die Regierung genötigt, den gemäßigten Elementen der Gesellschaft einige unbedeutende Zugeständnisse zu machen. Im September 1904 wurde an Stelle des von Sozialrevolutionären am 28. (15.) Juli gelöteten Ministers Plehwe der bisherige Chef des Gendarmeriekorps Fürst Swjatopolk-Mirski zum Innenminister ernannt. Er verkündete ein „wohlwollendes“ Verhalten und „Vertrauen“ zur Gesellschaft. Die Zensur wurde ein wenig abgeschwächt, einige liberale Semstwoleute wurden aus der Verbannung entlassen usw. Diese Zugeständnisse waren ganz minimal. So wurde z. B. der bereits erlaubte Kongress der Semstwoleute in Petersburg 5 Tage vor seinem Zusammentritt verboten. Während der gemäßigte Teil der Semstwoleute der Ansicht war, dass der „liberale“ Kurs der Regierung die Bedingungen für eine Zusammenarbeit schaffe, beharrten die radikaleren Elemente mit Peter Struve an der Spitze auf der Forderung nach einer Verfassung, nach Koalitionsfreiheit für die Liberalen und besonders für die Angehörigen der sogen. freien Berufe usw. Die ordentlichen Tagungen der Semstwos wurden von den Liberalen zur Aufstellung und Vertretung ihrer Forderungen benützt. Selbstverständlich sprachen sich die Liberalen, die die Revolution mehr als alles andere fürchteten, ausschließlich für „friedliche Mittel des gesetzlichen Kampfes für das Recht“ aus.

Die Liberalen hatten sich inzwischen bereits zu organisieren begonnen. Seit Juli 1902 erschien anfangs in Stuttgart und später in Paris eine illegale liberale Zeitschrift, die „Oswoboschdenije“ (Befreiung) unter der Redaktion von Peter Struve. Sie war das Organ der oppositionellen Semstwoleute und der oppositionellen Intelligenz. Gleich in der ersten Nummer verkündete sie, dass sie „kein revolutionäres Organ“ sein wolle. Im Januar 1904 schufen sich die Liberalen eine illegale Organisation unter dem Namen „Sojus Oswoboschdenija“ (Bund der Befreiung), dessen offizielles Organ nun die Zeitschrift „Oswoboschdenije“ wurde. Diese illegale Organisation ging etwas weiter als die gemäßigte Semstwo-Opposition und beschloss die Organisation der öffentlichen Meinung in Russland zum Kampf gegen den Absolutismus, zur Veranstaltung von Kundgebungen, Demonstrationen, besonders aber einer Kampagne in den Semstwos, Überreichung von Petitionen, Adressen usw. mit konstitutionellen Forderungen. In der ersten Hälfte des Jahres 1904 wurden von den Befreiungsbündlern in einer ganzen Reihe von russischen Städten unter allerlei Vorwänden Bankette veranstaltet, auf denen Hunderte von Personen sich versammelten, Reden gehalten und Resolutionen beschlossen wurden, in denen eine Verfassung und das allgemeine Wahlrecht gefordert wurden. Der Bund der Befreiung sprach sich unter dem Druck der ansteigenden revolutionären Welle für die Einberufung einer konstituierenden Versammlung und für „Zwangsenteignung des Grund und Bodens“, natürlich gegen „Entschädigung“, aus.

Die liberale Kampagne hatte jedoch bei der absolutistischen Regierung keinen Erfolg. Im Dezember 1904 wurde den Semstwos durch einen Befehl des Zaren verboten, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen. Dieser Verweis des Zaren und die patriotische Begeisterung im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Japan, vor allem aber die Angst vor der Arbeiterbewegung (nach dem Petersburger Blutsonntag vom 9./22. Januar 1905) machten der Semstwo-Opposition ein Ende. Die politische Ohnmacht der Liberalen wurde in dieser „Semstwo-Kampagne“ vollständig enthüllt.

Im November 1904 verschickte die menschewistische Redaktion der „Iskra“ einen Brief an die Parteiorganisationen, in welchem die Entschiedenheit der Liberalen und ihre Fähigkeit, den Kampf für die Verfassung zu führen, gewaltig überschätzt wurde. Von den Befreiungsbündlern hieß es in dem Briefe, sie seien „eifrig dabei, in den Gouvernement-Semstwoversammlungen Kundgebungen zugunsten einer Verfassung vorzubereiten“. Anstatt die politische Ohnmacht und Feigheit der Semstwo-Liberalen zu enthüllen, schrieben die Menschewiki: „Dadurch aber, dass sie sich offiziell gegen den Absolutismus wenden und an ihn Forderungen stellen, die auf seine Vernichtung gerichtet sind, sind sie faktisch unsere Bundesgenossen (natürlich in sehr relativem Sinne), wenn auch in ihren Handlungen keine genügend entschiedenen und in ihren Bestrebungen keine genügend demokratischen Bundesgenossen“. „Unser Verhalten gegenüber der liberalen Bourgeoisie wird durch die Aufgabe bestimmt, ihr mehr Mut einzuflößen und sie zu veranlassen, sich jenen Forderungen anzuschließen, mit denen das von der Sozialdemokratie geführte Proletariat hervortreten wird. Aber wir würden in einen verhängnisvollen Fehler verfallen, wollten wir uns zum Ziele setzen, schon jetzt durch energische Maßnahmen der Einschüchterung die Semstwos oder andere Organe der bürgerlichen Opposition zu zwingen, unter dem Einfluss der Panik das formelle Versprechen zu geben, unsere Forderungen der Regierung zu unterbreiten. Eine solche Taktik würde die Sozialdemokratie kompromittieren, da sie unsere ganze politische Kampagne in einen Hebel für die Reaktion verwandeln würde“. Das war nicht nur eine Überschätzung der Liberalen, sondern schon eine Kapitulation vor ihnen: die Menschewiki sahen die Hauptgefahr darin, die Liberalen zu erschrecken, darin, dass das Proletariat die Liberalen weiter treibe, als dies für sie annehmbar war. Das Proletariat und seine Partei erschienen auf diese Weise natürlich nicht als Vorhut im Kampfe gegen den Absolutismus. So offenbarte der Brief die tiefsten prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten zwischen Bolschewiki und Menschewiki. Der Artikel Lenins über die Semstwokampagne, der die prinzipielle Position der Menschewiki und der „Iskra“ sowie ihren Plan der Semstwokampagne zergliederte, spielte eine große Rolle in der Formulierung der bolschewistischen Taktik und der Aufklärung der Parteimitglieder über sie. [Ausgewählte Werke, Band 2]

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