P. Orlowski 19171100 Charakterköpfe des bolschewikischen Umsturzes

P. Orlowski: Charakterköpfe des bolschewikischen Umsturzes

W.I. Lenin

[Nach Bote der Russischen Revolution. Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) Nr. 11, 28. Nov. 1917, S. 7 f.]

Im Jahre 1903, als die bekannte Spaltung in der russischen Sozialdemokratie entstand, wurde seitens der Menschewiki der Ausdruck „die eiserne Faust Lenins" lanciert. Der Ausdruck ist gut: es ist wirklich ein Mann mit der eisernen Faust – ein willenskräftiger, zäher Charakter, der vor keinem Widerstande zurückweicht, sich durch keine Misserfolge entmutigen lässt, zu seinem Ziele unermüdet und beharrlich geht.

Es ist ein Mann mit eiserner Faust, mit eisernem Charakter und mit eisernen Nerven.

In einem anderen Milieu wäre aus ihm ein hervorragender Gelehrter, ein tüchtiger Staatsmann, ein unermüdeter Pionier der Sache, der er sich gewidmet hätte [geworden]. In Russland, wo alles Ehrliche und Tüchtige notwendigerweise oppositionell wurde, konnte er nur ein Revolutionär werden, und dabei nur ein linksstehender Revolutionär. Den jeden Gedanken muss er konsequent bis zu letzten Schlüssen durchdenken und jedes Handeln bis zu Endresultaten treiben.

Und so wurde er Sozialdemokrat. Der Name, den ihm sein im Jahre 1889 hingerichteter Bruder hinterließ, erleichterte ihm den Zutritt zu der Partei: aber das war auch kaum nötig. Durch seine Begabung, durch seine Kenntnisse und durch seine Energie erreichte er bald die führende Stellung in der Partei.

Es waren Jugendjahre der russischen Sozialdemokratie. Die Partei existierte eigentlich noch nicht. Der erste Versuch die zerstreuten sozialdemokratischen Organisationen zu einer Partei zu sammeln endete mit Verhaftung der meisten Kongressdelegierten. Die Bewegung und die Organisation waren in Russland noch zu schwach, die Polizeiverhältnisse zu schwer als dass man im Lande selbst ein tatkräftiges Zentrum bilden könnte.

Das verstand Lenin, der die Jahre 1897-99 im Exil in Sibirien verbrachte, und nach einer Verständigung mit seinen damaligen Freuden, Martow und Potressow, begaben sich alle drei, samt einigen anderen Genossen, nach dem Auslande und gründeten dort, zusammen mit Plechanow, Axelrod und Sassulitsch, die Zeitung „Iskra" (Der Funke).

Nun begann die Periode des Aufbaues unserer Partei, und – ohne die Verdienste anderer Genossen zu vermindern – man muss gestehen, dass diese Periode unter dem Zeichen Lenins steht, dass er die Seele dieser Bewegung war. [Die] Idee bestand in der Bildung einer Partei auf dem Wege systematischer Propaganda, zu welchem Zwecke das Blatt dienen sollte. Der Bau der Partei geschah von oben, aber gleichzeitig entstand eine spontane Massenbewegung von unten, welche in den Iskra-Komiteen Organisationszentrale und Vertretungsorgane fand. Dieser Organisationsplan, gegen den manche Gegner der Iskra, später auch einige der Redakteure selbst (nach der Spaltung, als die Leute ihre eigne Arbeit zu diskreditieren begannen) [opponierten], hat sich in der Revolution vom Jahre 1905 als vollständig richtig erwiesen: die Massenbewegung der Arbeiter ging überall unter dem Zeichen der Sozialdemokratie und der Iskra.

Aber vor dieser ersten Revolution kam es zur Spaltung der Partei. Es war „eine alte Geschichte" – zwei Psychologien, hinter denen zwei große Gruppen des Proletariats standen: die Fabrikarbeiter und die Arbeiterschaft der Kleinbetriebe, – eine Teilung die auch in manchen europäischen Arbeiterorganisationen entstand. Dass Lenin das Haupt des revolutionären Flügels wurde, das konnte man leicht vorhersehen. Er nahm den Kampf gegen den Opportunismus mit der ihm eignen Energie auf.

Ganz wie in Deutschland, ging die Mehrzahl der Intellektueller in das opportunistische Lager. Dieser Prozess geht wie ein roter Faden durch die ganze Geschichte der russischen Sozialdemokratie seit 1903 bis heute. Der Sieg der Bolschewiki am 7. November hat diese Scheidung besonders klar ans Licht gebracht: Die Masse der sozialistischen Intelligenz hat sich mit der bürgerlichen Intelligenz zu gemeinsamen Kampf gegen die Arbeiterklasse vereinigt, nur weil an der Spitze der Arbeiterbewegung die verhassten Bolschewiki und die apokalyptische Bestie – Lenin – stehen. Das hat nur das alte Wort Lenins bestätigt, dass die sozialistische Intelligenz, die fast ausschließlich aus der bürgerlichen Klasse stammt in ihrer Masse dem Bürgertum näher steht als der Arbeiterklasse.

Die Revolution vom Jahre 1905 hat Lenin den Rückkehr nach Russland ermöglicht. Aber nur kurze Zeit konnte er dort ganz legal wohnen. Schon im Frühjahr 1906 begann die Reaktion und im Juli dieses Jahres fühlte sie sich so stark, dass sie auch die zweite Duma auseinanderjagte und das Wahlgesetz änderte. Lenin, der überhaupt nicht so leicht jemanden traut, umso mehr dem Gegner, nahm seine Maßregeln vor und ließ sich in Finnland unweit von Petrograd nieder. Von dort aus entwickelte er seine energische Tätigkeit bis April 1907, wo er mit anderen zum fünften Parteitag nach London fuhr, um nicht mehr nach Russland zurückzukommen. Nur die neue Revolution hat ihm die russische Grenze wieder eröffnet.

Wie alle große, charakterfeste Leute wird Lenin entweder heiß geliebt, oder stark gehasst. Für seine Gegner ist ei ein Ungeheuer, für das nichts Heiliges existiert, das aus lauter Wollust im Blute watet und ehrgeizig nach der Staatsgewalt strebt. Für seine Anhänger dagegen, und besonders für Arbeiter, ist er beinahe ein Götze. Es ist wirklich ein Mann, der Männer und Massen fortreißen kann. Kein großer Redner im ästhetisch-technischen Sinne des Wortes, spricht er doch mit solcher Überzeugungskraft und solchem Aufschwung, dass Tausende von Menschen rasend werden. Der Kontakt mit der Masse regt ihn auf und er besitzt das Geheimnis seine eigne Überzeugung und seinen Glauben der Masse zu übergeben. Dabei ist seine Rede schlicht, frei von jeglicher Ornamentation, sachlich und klar. Das sind keine Bilder die aus seiner Rede empor strömen, das sind Taten.

Aber dieses Ungeheuer, das mit „eiserner Faust" jeden Widerstand niederschmettert und „nach Blut lechzt" sieht ganz anders aus, wenn man mit ihm zusammen am Arbeitstisch sitzt und Pläne entwirft. Handschriften durchliest, oder etwaige praktische Fragen bespricht. Keiner ist so willig, fremdem Rat zu folgen, wenn der Rat gut ist, keiner erlaubt so gutmütig seine Handschriften zu redigieren und zu „modifizieren", keiner unterwirft sich so gerne der Meinung der Majorität, Aber gewiss, wenn er nicht überzeugt ist, dass dadurch die Interessen der Partei und der Arbeiterklasse Schaden erleiden. Dann steht er fest bei seinen Forderungen, auch wenn es Bruch mit den besten Freuden gelten sollte.

Frangas, non flectes" – das ist von ihm gesagt.

Einen solchen Charakter braucht jetzt die russische Arbeiterklasse, wenn sie ihre historischen Forderungen erfüllt sehen will. Denn es gilt einen ungeheuren Kampf durchzumachen, gegen seine nächsten Freunde aufzutreten, seine verbündeten Brüder zu überzeugen, wo nicht – zu überwältigen. Und dazu bedarf man wirklich eiserner Faust, eisernen Willens, eiserner Nerven.

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