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Bolschewiki und Menschewiki nach Kriegsbeginn

Die Russische Sozialdemokratische Arbeiter-Fraktion, anfangs aus sechs, in den Kriegsjahren aus fünf bolschewistischen Abgeordneten der Reichsduma bestehend, hatte 1913 mit der sozialdemokratischen Fraktion der Menschewiki (Fraktion Tschcheïdse) gebrochen und sich bei Kriegsausbruch auf den internationalistischen Standpunkt gestellt. In der Sitzung der Reichsduma vom 8. August (26. Juli) verlas der Menschewik Chaustow im Namen beider sozialdemokratischer Fraktionen (der bolschewistischen und der menschewistischen) eine Deklaration, worauf beide Fraktionen zum Protest gegen die Bewilligung der Kriegskredite den Sitzungssaal verließen. Die Mitglieder der bolschewistischen Fraktion beschränkten sich nicht auf diesen parlamentarischen Protest, über den die Gruppe Tschcheïdse nicht hinausging, sondern entfalteten eine breite illegale revolutionäre Arbeit in den Massen.

Auf einer gemeinsamen Konferenz mit einer Gruppe führender Parteifunktionäre verfasste die RSDA-Fraktion am 30. September-1. Oktober (13.-14. Oktober) 1914 ihre Antwort an Vandervelde (über die weitere Tätigkeit der Fraktion siehe hier). [Lenin, Sämtliche Werke, Band 18, Anm, 33]

Lenin meint hier die Kundgebung der bolschewistischen Dumafraktion in der Sitzung der Reichsduma vom 8. August (26. Juli) 1914, die erste und letzte gemeinsame Kundgebung der bolschewistischen und menschewistischen Dumafraktion anlässlich des Krieges. Die menschewistische Fraktion, mit Tschcheïdse an der Spitze, nahm, wie sich dies in der nächsten Zeit vollkommen eindeutig herausstellte, eine zentristische, d. h. verkappte Haltung der Vaterlandsverteidigung ein. In diesen ersten Kriegstagen jedoch entschloss sich die menschewistische Fraktion unter dem Druck der Bolschewiki und nach langwierigen Verhandlungen und langem Schwanken zur Ausarbeitung einer gemeinsamen Deklaration sowie zu einer gemeinsamen Kundgebung mit den Bolschewiki in der Staatsduma. Die Bolschewiki waren mit dieser Deklaration nicht zufrieden, hatten jedoch erreicht, dass darin vom Krieg als von einer Folge „der von allen kapitalistischen Ländern betriebenen Eroberungs- und Gewaltpolitik“ gesprochen wurde, dass von der Unmöglichkeit der Einigung zwischen Volk und Staatsgewalt die Rede war und dass der Überzeugung Ausdruck gegeben wurde, dass die Menschheit in der internationalen Solidarität des Proletariats der ganzen Welt ein Mittel zur baldigsten Beendigung des Krieges finden und dass der Friedensvertrag von den Völkern diktiert werden wird, die ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen werden. Die bolschewistische Fraktion setzte auch durch, dass sich die Menschewiki gemeinsam mit ihr weigerten, für die Kriegskredite zu stimmen und den Sitzungssaal der Reichsduma demonstrativ verließen.

Bald danach wandte sich Vandervelde – belgischer „Sozialist“ und Mitglied des Internationalen Sozialistischen Büros der II. Internationale, – der in den Tagen der Kriegserklärung in die bürgerliche Regierung Belgiens eingetreten war, sowohl an die menschewistische als auch an die bolschewistische Fraktion der Staatsduma mit der Aufforderung, die zaristische Regierung und die englischen und französischen Imperialisten im Kriege zu unterstützen. Die menschewistische Fraktion zögerte nicht, in ihrer Antwort auf diese Aufforderung Vanderveldes zu erklären, dass „die aktive Beteiligung … der Sozialisten aller Länder an dem allgemeinen europäischen Konflikt“, d. h. am Kriege, hoffen lasse, man werde diesen „Konflikt im Interesse des internationalen Sozialismus“ lösen.

Die menschewistische Fraktion, die somit behauptete, dass der Verrat der Sozialisten aller Länder am Sozialismus, ihr Übergang ins Lager der Bourgeoisie nicht den Interessen der Bourgeoisie, sondern denen des internationalen Sozialismus diene, fügte hinzu: „Wir erklären euch, dass wir in Russland in unserer Tätigkeit dem Kriege nicht entgegentreten werden.“ Und sie wirkte tatsächlich nicht nur nicht gegen den Krieg, sie förderte ihn und half der Zarenregierung, indem sie sich unmittelbar an der Verteidigungsarbeit der Bourgeoisie (Hilfeleistung für die Kranken und Verletzten usw.) beteiligte. Die bolschewistische Dumafraktion dagegen, die Vandervelde in einer entschiedenen Erklärung geantwortet hatte, dass „das russische Proletariat unter keiner Bedingung mit dem Zarismus Hand in Hand gehen kann“ und dass die Fraktion ihre Aufgabe darin erblickt, den Krieg für den weiteren Kampf gegen die in Russland herrschende Staatsordnung und für die aktuellen revolutionären Losungen auszunutzen, leistete tatsächlich energische Arbeit, um diese Aufgabe auszuführen. Die bolschewistischen Duma-Abgeordneten beschränkten sich keineswegs auf Petersburg, sondern bereisten vielmehr auch die anderen Industriezentren, wo sie in Versammlungen sprachen. Das konnte jedoch nicht lange so weitergehen, bald verhaftete die zaristische Regierung die bolschewistische Fraktion und stellte sie vor Gericht. Am 4./17. November fand auf Initiative und unter Beteiligung der bolschewistischen Dumafraktion in der Nähe von Petersburg (in Oserki) eine Konferenz der Vertreter einiger nahe gelegener bolschewistischer Organisationen statt (u. a. der Petersburger, Iwanowo-Wosnessensker, Charkower und Rigaer Organisationen). Im Mittelpunkt der Konferenz stand die Beratung über die September-Thesen von Lenin. Der Konferenz gelang es gerade noch, die Debatte über die Thesen zu Ende zu führen und diese mit einigen kleinen Verbesserungen anzunehmen, als sie von der Polizei überrascht wurde. Die Konferenzteilnehmer wurden mit Ausnahme der Mitglieder der Reichsduma an Ort und Stelle verhaftet, die Fraktionsmitglieder am anderen Tage in ihren Wohnungen. Laut Urteil des zaristischen Gerichts wurden sie nach Ostsibirien verbannt. (Näheres über die Tätigkeit der Dumafraktion der Bolschewiki während des Krieges sowie über die Verhaftung und die Gerichtsverhandlung siehe im Buche von Badajew „Die Bolschewiki in der Reichsduma“.) Der Gerichtsverhandlung über die Dumafraktion hat Lenin einen besonderen Artikel gewidmet: „Was hat die Gerichtsverhandlung gegen die Russische Sozialdemokratische Arbeiterfraktion erwiesen“. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 5, Anm. 21]

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