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Genossenschaften in Sowjetrussland

Nach der Oktoberrevolution erhielt das russische Proletariat als Erbe ein ziemlich ausgedehntes Netz von Konsumvereinen und landwirtschaftlichen Genossenschaften, die unter dem Einfluss der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki standen und von diesen zum Kampf gegen die Sowjetmacht ausgenutzt wurden. Lenin wies damals darauf hin, dass es gilt, auch diese vom Kapitalismus hinterlassenen Genossenschaften auszunutzen als „Massenorganisationen, die geeignet sind, den Übergang zur massenweisen Rechnungslegung und Kontrolle der Verteilung der Produkte zu erleichtern.“

Zur Zeit des Kriegskommunismus, als die Verteilung der Waren durch den Markt von der staatlichen Verteilung der Produkte abgelöst wurde, wurden die Genossenschaften zu einem überaus wichtigen Bestandteil des allgemeinen Verteilungsapparats. Die einheitlichen Konsumvereine erfassten die ganze Bevölkerung. Ihre Hauptaufgabe bestand nicht in der Beschaffung und im Verkauf von Waren an ihre Mitglieder, sondern in der Verteilung der vom Volkskommissariat für Ernährungswesen beschafften Produkte unter die Bevölkerung.

Die Lage änderte sich mit dem Übergang zur neuen ökonomischen Politik. Die Ersetzung der Lebensmittelzwangsumlage durch die Naturalsteuer, die Wiederherstellung des freien Handels und die Unausbleiblichkeit des Wachstums der Elemente des Kapitalismus auf dieser Grundlage – all dies schuf für die Genossenschaften eine neue Situation. Die Konsumgenossenschaften hörten auf, dem Volkskommissariat für Ernährungswesen unterstellt zu sein, die landwirtschaftlichen Genossenschaften wurden von den Konsumgenossenschaften getrennt.

Der Übergang zur neuen ökonomischen Politik schloss, wie dies von Lenin wiederholt betont wurde, eine „gewisse“ Zulassung des Kapitalismus in sich ein, der von der proletarischen Diktatur kontrolliert, reguliert und in Zaum gehalten wurde. Diesem Staatskapitalismus maß Lenin in der ersten Zeit der neuen ökonomischen Politik viel Bedeutung bei und betrachtete damals (1921) auch die Genossenschaften im Zusammenhang mit ihm. Angesichts der in gewissem Maße erfolgten Zulassung des Kapitalismus mussten sich in den Genossenschaften der kleinen Eigentümer unweigerlich kapitalistische Elemente entwickeln (mussten – nach einem Ausdruck Lenins – „Kapitalisten und Kapitalistchen“ hervorgehen), und Lenin sah unter solchen Bedingungen in den Genossenschaften eine besondere, eigenartige Form des Staatskapitalismus. Da aber die Genossenschaften gleichzeitig Millionenmassen vereinigen sollten, war dieser Umstand allein für Lenin ein „gigantisches Plus vom Standpunkt des späteren Übergangs vom Staatskapitalismus zum Sozialismus“. Die Genossenschaften, die sich ursprünglich in der Form des Staatskapitalismus entwickelten, aber Millionenmassen vereinigten, mussten als Ergebnis „den Übergang von der Kleinproduktion zur Großproduktion“ mit sich bringen. „Die Genossenschaftspolitik“ – schrieb Lenin – „wird uns, im Falle des Gelingens, einen Aufschwung des Kleinbetriebes bringen und seinen Übergang – in unbestimmter Frist – zum Großbetrieb auf der Grundlage des freiwilligen Zusammenschlusses erleichtern“.

[...] In Verbindung mit der sozialistischen Industrie, mit ihrem Wachstum und ihrer führenden Rolle ist nach Lenin das einfache Wachstum der Genossenschaften ein Wachstum des Sozialismus. Es ist für Lenin ein Wachstum, das auf dem Lande über die Vergenossenschaftung der Bauernmassen auf dem Gebiet des Warenumsatzes, des Einkaufs, Verkaufs und Kredits zu einer Vergenossenschaftung der Produktion und zur Kollektivierung des Dorfes unter der Führung der sozialistischen Industrie entgegengeht.

Dabei sind – nach Lenin – die Genossenschaften ein Weg zum Sozialismus gerade für die Bauernmassen, d. h. für die Dorfarmut und für die Mittelbauernschaft. Bereits 1918 sagte er voraus, dass der Kulak ein Feind der Kollektivierung des Dorfes sein wird, dass er dem Übergang zur kollektiven Wirtschaft hartnäckigen Widerstand entgegensetzen wird und dass man ihm im Zuge dieses Überganges wird „alles nehmen“ müssen. Der Weg zum Sozialismus über die Vergenossenschaftung und die Kollektivierung – als die höchste Form der Vergenossenschaftung – sollte zurückgelegt werden unter der Bedingung, dass das Bündnis zwischen dem Proletariat und der Dorfarmut einerseits und den Mittelbauern anderseits entwickelt und gefestigt wird, wobei das Proletariat und seine Partei die Führung in diesem Bündnis innehaben, das Proletariat sich auf die Dorfarmut stützt und den Kampf gegen den Kulaken auch nicht eine Minute lang einstellt. Und schließlich sollte sich die Vergenossenschaftung, die Kollektivierung des Dorfes selbst auf der Grundlage eines solchen Bündnisses mit dem Mittelbauern nach dem Prinzip eines „freiwilligen Zusammenschlusses“ vollziehen.

Dieser Leninsche Genossenschaftsplan wurde und wird von den Opportunisten von rechts [...] auf die unzulässigste Weise entstellt. Bereits 1925 führte Genosse Bucharin auf der XIV. Parteikonferenz über die Wege des Dorfes zum Sozialismus folgendes aus „Welche Elemente wird es auf dem Lande geben?“, fragte er und antwortete darauf: „Die Genossenschaften der Dorfarmut – nämlich die Kollektivwirtschaften. Ferner die mittelbäuerlichen Genossenschaften auf dem Gebiet des Verkaufs, Kaufs, Kredits usw. An manchen Orten wird es auch kulakische Genossenschaften geben, die sich wahrscheinlich auf die Kreditgenossenschaften stützen werden. Diese ganze Stufenleiter wird in das System unserer Banken, unserer Kreditinstitute und damit auch in das System unserer Wirtschaftsinstitutionen überhaupt hineinwachsen. Was wird sich nun im allgemeinen bei uns ergeben? Es wird bei uns im allgemeinen so kommen, dass, wenn der Kulak in das Gesamtsystem hineinwachsen wird, er ein Element des Staatskapitalismus sein wird, wenn der arme Bauer oder der Mittelbauer hineinwachsen wird, dies die sozialistischen Genossenschaften sein werden, von denen Lenin gesprochen hat“ (Bucharin, „Drei Reden“, Moskau 1926, russ.). Auf diese Weise sollten nach Bucharins Meinung bereits im Jahre 1925 alle drei sozialen Gruppen des Dorfes – arme Bauern, Mittelbauern, Kulaken – in unser System, d. h. den Sozialismus „hineinwachsen“, und zwar die eine Gruppe (die Kulaken) durch staatskapitalistische Kulakengenossenschaften, die anderen durch die sozialistischen Genossenschaften. In seiner Broschüre „Der Weg zum Sozialismus und das Bündnis der Arbeiter und Bauern“ gab Genosse Bucharin im gleichen Jahr 1925 eine theoretische Begründung derselben Gedanken, wobei er zu dem gleichen Schluss kam, dass alle „Bauerngenossenschaften“, darunter auch die Kulakengenossenschaften, geschlossen in den Sozialismus hineinwachsen werden, da „dem Kulaken und den Kulakenorganisationen ohnehin kein anderer Ausweg offenstehen wird“. Da dabei die Kollektivwirtschaften nach Genossen Bucharin speziell „Genossenschaften der Dorfarmut“ waren, die Hauptmasse der Bauern aber aus Mittelbauern bestand, so leitete er hieraus seine Folgerung ab, dass zwar „die Kollektivwirtschaft ein mächtiges Ding, aber doch nicht die große Heerstraße zum Sozialismus ist“.

Die antileninistischen Gedankengänge des Genossen Bucharin über ein harmonisches Hineinwachsen der kulakischen, mittelbäuerlichen und kleinbäuerlichen Genossenschaften in den Sozialismus stützten sich auf die von ihm in der erwähnten Broschüre entwickelten Behauptungen, dass die „Bauernschaft“ – die Dorfarmut, die Mittelbauern und die Kulaken mit inbegriffen – in der Epoche des sozialistischen Aufbaus zwar heterogener sei als die Arbeiterklasse, dass sie aber dennoch eine Klasse sei. Hieraus entsprang bei Bucharin auch die antileninistische Auffassung des Bündnisses zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft in dieser Epoche. Dieses Bündnis war für Bucharin ein Bündnis mit der gesamten Bauernschaft, von der Dorfarmut bis zum Kulaken, und nicht ein auf die Dorfarmut gestütztes Bündnis mit der Mittelbauernschaft bei gleichzeitigem Kampf gegen den Kulaken. Der Kampf gegen den Kulaken musste sich nach Bucharins 1925 geäußertem Standpunkt lediglich in der „ersten Periode“ der Vergenossenschaftung des Dorfes verschärfen und auch da nicht unbedingt, sondern nur „wahrscheinlich“ (Bucharin, „Drei Reden“), später sollte er erlöschen, und der Kulak sollte in den Sozialismus „hineinwachsen“, da er ja ein Teil jener einheitlichen Klasse sei, mit der das Proletariat auf seinem Wege zum Sozialismus ein Bündnis schließe.

All dies zusammengenommen bildete die Grundlage für die Position des Rechtsopportunismus in jener Etappe des sozialistischen Aufbaus und Klassenkampfes in der Sowjetunion, als die leninistische Politik der Partei in diesem Aufbau und Kampf, als die leninistische Linie dieser Politik auf dem Lande dazu geführt hatte, dass eine massenweise Vergenossenschaftung der Produktion des Dorfes, eine Massenkollektivierung der klein- und mittelbäuerlichen Wirtschaften möglich wurde. Der Rechtsopportunismus stellte sich dieser Vollendung des Leninschen Genossenschaftsplans in den Weg, in dem Bestreben, das Dorf auf der zurückgelegten Etappe aufzuhalten. Er wandte sich gegen die Kollektivierung der Mittelbauernschaft. Seine Propaganda für ein Bündnis mit der ganzen Bauernschaft, einschließlich der Kulaken, seine Predigt vom Hineinwachsen in den Sozialismus in Gemeinschaft mit dem Kulaken und seine Ablehnung der Kollektivwirtschaften als der großen Heerstraße zum Sozialismus verwandelte sich in einen Ausdruck des kulakischen Widerstandes gegen den Aufbau der Kollektivwirtschaften, in eine Propaganda für die Restaurierung des Kapitalismus. Der Rechtsopportunismus betätigte sich als eine direkte Agentur des Kulakentums. [...] [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 9, Anm. 115]


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