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Alexander 19380100 Die „Friedensfront”

Alexander: Die „Friedensfront”

[Nach Der einzige Weg, Zeitschrift für die Vierte Internationale, Nr. 2 (Januar 1938), S. 44 f.]

Die einzelnen Parteien der II. und der III. Internationale haben die Außenpolitik ihrer Staaten (mit Ausnahme derjenigen, wo sie sowieso kaum mehr existieren) zum Angelpunkt ihrer gesamten Existenz gemacht. Sie betreiben Innenpolitik nur mehr als Fortsetzung der bürgerlichen Außenpolitik. Im Interesse der Staatsverteidigung unterdrücken sie Streiks und Lohnkämpfe; und ohne Widerstand nehmen sie alle Lasten hin, die das imperialistische Wettrüsten der Arbeiterklasse und dem Mittelstand aufbürdet. Sie sorgen für «Ruhe und Ordnung», dieses Haupterfordernis der nationalen Wehrhaftigkeit. Sie haben alle Hände voll zu tun mit der Verteidigung des bürgerlichen Staates; für die Verteidigung der Klasse, des Proletariats, haben sie keinen Pfennig und keinen Arm mehr übrig. Damit schaffen sie der Bourgeoisie in allen Ländern die günstigsten innerpolitischen Bedingungen zur ungestörten Verfolgung ihrer imperialistischen außenpolitischen Ziele. Denn die marxistische Wahrheit, dass die Außenpolitik nur Fortsetzung der Innenpolitik ist, bleibt Wahrheit, auch wenn sie von den Arbeiterparteien nicht anerkannt wird. Und sie erweist sich dann daran, dass die Partei oder die Klasse, die sich dieser Wahrheit nicht bewusst ist, sowohl außenpolitisch als auch innenpolitisch zu einem gefügigen Instrument wird in der Hand der herrschenden Klasse, die auf diese Weise ungestört ihre Außenpolitik eben als Fortsetzung ihrer Innenpolitik betreibt.

Freilich, in keinem einzigen Lande könnte es den Sozialpatrioten der II. und der III. Internationale gelingen, die Arbeiterschaft für die wirklichen außenpolitischen Ziele der herrschenden Klasse zu mobilisieren; als Kanonenfutter für die imperialistischen Raubkriege, die zu unternehmen die Bourgeoisie gezwungen ist, um aus der Stickluft der kapitalistischen Produktion und des Nationalstaates (aus dieser «innerpolitischen» Stickluft) den einzigen für sie gangbaren (außenpolitischen) «Ausweg» zu suchen.

Ist es nicht möglich, die Völker für diese Aktionen zur Verteidigung und Erhaltung ihrer Kerkermeister aufzurufen, so erweisen die Sozialpatrioten ihrer Bourgeoisie einen weiteren Dienst, indem sie die wirklichen außenpolitischen Ziele vernebeln und durch betrügerische Illusionen ersetzen. Den Extrakt dieser Illusionen repräsentiert die Phrase von der «Friedensfront», die da die Welt bewahrt vor den bösen «dynamischen» Staaten. Je gespannter indessen die außenpolitische Situation, desto unhaltbarer erweisen sich die Illusionen. Und so hat auch die neue außenpolitische Aktivität im Zeichen der Reisen Mussolinis, Halifax’ und Delbos' für jeden, der noch sehen und hören kann, zu einer allgemeinen Demaskierung geführt.

Wohl waren die Pressekommentare ebenso widerspruchsvoll und undurchsichtig wie die Außenpolitik der Staaten es noch ist. Wir haben nicht erfahren, ob England im Kriegsfall auf der Seite einer bedrohten Tschechoslowakei oder eines bedrohten Österreich zu finden sein wird, ob Polen sich im Ernstfall für Deutschland oder für Frankreich, und Jugoslawien für Italien oder die kleine Entente entscheiden wird. Das alles bleibt unsicher bis zum tatsächlichen Ausbruch des Krieges. Diese Unsicherheit allerdings, die das einzige ist, was hier unbestreitbar feststeht, diese ständige Veränderlichkeit der imperialistischen Gruppierungen reicht aus, um die Phrase von der «Friedensfront» als solche durchaus zu entlarven.

Denn was waren die großen Presse-Sensationen dieser Wochen anderes als Proben auf künftige Kriegskoalitionen! Wenn die «Times» mit dem Gedanken liebäugelt, England könne sich mit Deutschland auf Kosten Mitteleuropas einigen («freie Hand für Hitler in Mitteleuropa»), so war das ein Versuch, an Hand der internationalen Reaktionen auf einen solchen Plan, dessen Rentabilität zu erproben; d.h. zu erfahren: 1. was Deutschland für einen solchen Preis zu bieten imstande sei (Aufopferung oder Milderung der Kolonialwünsche, Bruch der Achse Rom-Berlin), und 2. wie weit die Reaktionen der anderen europäischen Staaten einen solchen Schritt für England ratsam erscheinen lassen. Bemerkenswert ist, dass die «Lidove noviny» vom 28. 11. 37, die vom Prager Außenministerium inspiriert sind, sich sofort folgendermaßen äußerten:

«Wenn die Tschechoslowakei die Zusammenarbeit mit dem Westen braucht, so kann auch der Westen die Zusammenarbeit mit der Tschechoslowakei nicht entbehren, indem diese der mitteleuropäische Hauptstützpunkt ist für das gegenwärtige Gleichgewicht der Kräfte. In dem Maße aber, wie der Westen das Interesse an uns verlieren würde, müssten auch wir unser Interesse am Westen verlieren.»

Das deutet wohl auf die Möglichkeit hin, dass es nicht nur England, sondern auch der Tschechoslowakei und mit ihr der ganzen kleinen Entente möglich wäre, mit Berlin handelseinig zu werden. Die «Pritomnost» vom 24. 11. 37, in der ebenso immer die Stimme der offiziellen tschechoslowakischen Außenpolitik hörbar ist, wird diesbezüglich deutlicher:

«Die gegenwärtige Verteilung der Kolonien», heißt es da, «sieht sehr parteiisch aus… Ein neues Friedenssystem könnte auf der vollständigen Gleichberechtigung Deutschlands aufgebaut werden, wozu auch die Rückgabe der Kolonien gehört und auch die Beseitigung jener Reste von Maßnahmen, die Deutschland der vollen Souveränität über sein Gebiet berauben. Wohin immer wir blicken, keine andere Idee ist in Sicht.»

Selbstverständlich, so wie es sich in der Kombination der «Times» um die «Organisierung des Friedens» handelt, so wollen auch diese Erwägungen Prags «dem Frieden dienen». Indessen, der «Friede» wird von demjenigen organisiert, der eine haltbare Kriegskoalition zusammenzuschweißen vermag, und gegen denjenigen, der es nicht vermag.

Schon die ersten tastenden Versuche in dieser Richtung (auf die «Neuorganisierung des Friedens») erweisen den illusorischen Charakter, die faktische Nichtexistenz dessen, was sich «Friedensfront» oder gar «demokratische Friedensfront» nennt. Ebenso wie diese Versuche auch als durchaus fraglich erscheinen lassen, ob ein künftiger Krieg die «dynamischen» Staaten Italien und Deutschland in einer gemeinsamen Front findet; – ob es nicht schließlich einem dieser beiden Partner gelingen wird, seine Partnerschaft rentabel zu verkaufen.

Ein sogenannter «dynamischer» Staat ist ein bei der Aufteilung der Welt zu kurz gekommener Staat, dessen Hunger die anderen Staaten und insbesondere die gesättigten imperialistischen Räuber bedroht. Selbst für den Fall, dass sich diese gesättigten Imperialismen in einer gemeinsamen Front gegen die hungrigen zusammenfinden, würde es sich eben um keine Friedensfront handeln, die irgendwelchen kleinbürgerlichen Idealen dient, sondern um eine Kriegskoalition zur Verteidigung des Raubgutes, das aus dem letzten Weltkrieg stammt. Indessen wird es in einem künftigen Krieg nicht um die Erhaltung des Status quo gehen, sondern um die Neuaufteilung der Welt.

Der sogenannte «dynamische» Staat erhebt einstweilen Forderungen gegen alle Welt, um die Stelle des geringsten Widerstandes ausfindig zu machen und dort vorzustoßen. Aus dieser Tatsache, dass es kaum einen Staat gibt, gegen den sich nicht irgendeine Forderung der hungrigen Imperialismen richten könnte, folgern nur Pazifisten und Sozialpatrioten die Existenz einer großen, mächtigen «Friedensfront», die alle Bedrohten umfassen müsse. Indessen genügt der leiseste Versuch, den europäischen Status quo zu verändern, um eine solche Vorstellung als Unsinn zu entlarven. Denn in dem Moment, wo aus der Angriffsmöglichkeit gegen alle der konzentrierte Angriff gegen einen einzigen wird, erweisen sich die Nichtangegriffenen an dem Schutz des Angegriffenen keineswegs alle in gleichem Maße interessiert. So sieht man, dass Englands oder Jugoslawiens Interesse an einer Verteidigung des Status quo in Mitteleuropa keinesfalls feststeht. Die Tschechoslowakei wieder hat keineswegs Lust «in den Schützengräben zu liegen», um, «was die Kolonien betrifft», einen Zustand zu verteidigen, «wo die einen viel und die anderen nichts haben.» («Pritomnost» vom 24.11.37). Russland wohl auch nicht. Und welcher europäische Staat wird sich bei einem Angriff auf die Sowjetunion bedroht fühlen und sich zu deren Schutz erheben? Dieses Bild bietet die mächtige «Friedensfront» (England, Frankreich, USSR und kleine Entente), wenn man sie auf ihre politische Realität hin prüft. Sie existiert nicht, sie ist eine Phrase: der außenpolitische Popanz, in dessen Namen die Parteien der II. und der III. Internationale die Arbeiterschaft verraten, sie dem Finanzkapital und seinen Generalstäben zu freier Verwendung und Ausbeutung ausliefern. Um der Arbeiterschaft diesen Verrat schmackhaft zu machen, sehen sich die Sozialpatrioten gezwungen, das Trugbild einer gegen den Faschismus kämpfenden Friedensfront zu erfinden. Indem der Marxist erkennt, dass die imperialistischen Gruppierungen sich nicht nach den Richtlinien kleinbürgerlicher Illusionen vollziehen, sondern eben gemäß den jeweiligen imperialistischen Interessen: entlarvt er den Verrat, der sich hinter «pazifistischen» und «antifaschistischen» Parolen verbirgt; und während die sozialpatriotischen Parteien der II. und der III. Internationale die Triebkräfte und die Ziele eines künftigen Krieges verhüllen, um die Arbeiterschaft den imperialistischen Generalstäben unterzuordnen, verfolgt die neu erstandene IV. Internationale konkret die Gruppierungen und Umgruppierungen der imperialistischen Front – nicht, um sich ihnen einzuordnen, sondern um sie auszunützen zu selbständiger internationaler proletarischer Politik, die den permanenten Weltkrieg um die Aufteilung und Neuaufteilung der Welt ersetzt durch die permanente Revolution um den internationalen Verband sozialistischer Republiken.

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