Alexandra Kollontai 19500000 Helsingfors im Jahre 1917

Alexandra Kollontai: Helsingfors im Jahre 1917

[Zum ersten Mal veröffentlicht nach einem Manuskript aus dem Zyklus der Erinnerungen Alexandra Kollontais an das Jahr 1917, das im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau aufbewahrt wird. In die Erinnerungen wurden einige Ergänzungen aus den Manuskripten „Wie wir 1917 gearbeitet haben" und „Als Delegierte zur Beratung der Zimmerwalder Linken" eingefügt. Nach „Ich habe viele Leben gelebt“. Berlin 1980, S. 342-347]

Krieg und Zerrüttung haben die Massen zermürbt und objektive Voraussetzungen für die Entwicklung der revolutionären Kräfte geschaffen.

Die „Verbrüderung" ist an der Front zu einer verbreiteten Losung geworden. Die „Okopnaja Prawda“1 findet reißenden Absatz. Die „Wojenka"2 ist tätig, und die Broschüre „Wer braucht den Krieg?"3 ist in Zehntausenden Exemplaren erschienen. Bei den Truppenteilen erfreuen wir bolschewistischen Redner uns der größten Beliebtheit.

Die Stimmung der Petrograder Garnison ist so, dass die erschrockene Provisorische Regierung den Befehl erteilt hat, Petrograd von der revolutionären Garnison „zu entlasten".

Der Befehl wird jedoch nicht ausgeführt. Der Ungehorsam der Truppenteile untergräbt die Autorität der „zehn kapitalistischen Minister"4. Auch die „sozialistischen Minister"5 vermögen die Lage nicht zu retten. Die Massen machen sich bereits in aller Öffentlichkeit über sie lustig.

Die „Freiheitsanleihe"6 zeitigt weder materielle Ergebnisse, noch bewirkt sie einen Aufschwung des „Patriotismus".

In der Flotte wächst der Provisorischen Regierung eine neue Gefahr heran: In Helsingfors und Kronstadt sind die Schiffe, allen voran die „Respublika", vom „Bolschewismus infiziert". Das Zentralkomitee der Baltischen Flotte7 kämpft offen gegen Kerenski und dessen Schützlinge. Unsere Helsingforser Zeitung „Wolna"8 wird zu einem aktiven Zentrum des Bolschewismus.

Das Zentralkomitee schickt mich zur Arbeit auf den Schiffen nach Helsingfors …

Im Gedächtnis sind mir meine Reden in Helsingfors haftengeblieben, die Versammlungen auf den Kriegsschiffen „Gangut" und „Respublika", die hitzigen Diskussionen im überfüllten, stickigen Salon, anschließend auf Deck. Unsere Resolutionen sind angenommen worden, doch der Kampf war jedes Mal schwer. Im Gefühl des Sieges fahre ich wieder nach Petrograd, kann Lenin eine freudige Nachricht überbringen. Die Flotte wird auf unserer Seite stehen!

Eine zweite Reise nach Helsingfors – zwecks Erläuterung der „Freiheitsanleihe" und mit dem Auftrag, unsere Linie im Sowjet und auf den Schiffen durchzusetzen.

Eine Sitzung im Alexandra-Theater. Der Vorsitzende des Zentralkomitees der Baltischen Flotte, Dybenko, ein Bolschewik, hat gesprochen. Die Helsingforser Matrosen mögen Kerenski nicht. Begeistert berichten sie, wie Dybenko ihn einmal beinahe vom Schiff geworfen hätte. Dybenko ist die Seele des Zentralkomitees der Baltischen Flotte, kräftig und willensstark, wie er ist. Die „Vaterlandsverteidiger" fürchten ihn.

Meine dritte Reise nach Helsingfors führt mich im Sonderauftrag Wladimir Iljitschs auf den Parteitag der finnischen Partei. Meine Aufgabe ist es, die Partei von der II. Internationale zu lösen und sie überhaupt auf den Kurs der Zimmerwalder Linken zu bringen …

Im Mai wird auf einer Sitzung unseres Zentralkomitees die Frage erörtert, wen wir nach Helsingfors entsenden sollen. Wladimir Iljitsch bereitet die Stimmung der finnischen Sozialdemokraten Sorgen. „Man muss die Linken von der II. Internationale losreißen, sie sollen sich der Zimmerwalder Linken anschließen." Wladimir Iljitsch fallen meine Verbindungen zu den Finnen und meine Arbeit mit den Skandinaviern ein. „Schicken wir doch Kollontai mit einem Mandat vom Zentralkomitee. Fahren müssen Sie gleich morgen. Die Resolution fertigen Sie an Ort und Stelle an. Grundlage ist unsere bolschewistische Zielsetzung."

Ich fahre. Das macht mir Spaß, ist eine „Unterbrechung" in der Anspannung von Petrograd. Ich werde Helsingfors und meine Freunde von der Sozialdemokratischen Partei wiedersehen – Hilja Pärsinen, Kuusinen und Sirola. Das ist schön!

Helsingfors. Ein wundervoller, sonniger Morgen. Welch schmucker Bahnhof! Sauber, keine Schalen von Sonnenblumenkernen, kein Staub. Der Platz davor, das Hotel „Fenia". Ein kleines Zimmer mit einem Sessel, einem Teppich. Ich bin guter Dinge, muss lächeln. Ich wasche mich mit warmem Wasser, fürwahr ein Luxus! Kaffee, den ich nicht selbst zu kochen brauche. Und nun an die Arbeit!

Der Parteitag findet im Parteihaus9 statt. Helle, große und saubere Säle ohne den schon etwas schäbigen Glanz des Taurischen Palais. Am ersten Tag halte ich eine Begrüßungsrede im Namen des Zentralkomitees der Partei der Bolschewiki. Dann folgt als Wichtigstes die inoffizielle Arbeit. Das ist gar nicht so einfach! Anfangs hört man mich an, als redete ich wirres Zeug. Lenin ist für sie in jenen Tagen noch keine Autorität. Die Zimmerwalder Linke ist ein unklarer, vager, möglicherweise auch „gefährlicher" Begriff. So urteilen viele. Hier heißt es „abwägen", nachdenken.

Rovio ist Bolschewik. Und auch der hochgewachsene Männer ist auf unserer Seite. Pärsinen ist einverstanden. In einer Pause fährt sie mit mir in den Wald vor der Stadt. Ein herrlicher Tag! Ich habe in diesem Frühjahr noch kein Gras „geatmet". Wir ziehen Stiefel und Strümpfe aus, um die von der Sonne erwärmte Erde, die trockenen Nadeln und den Sand richtig zu spüren …

In der Redaktion der „Wolna". Mein alter Freund Smirnow. Breitschultrige, entschlossene Matrosen. Eine Kundgebung auf einem Platz. Wir sprechen von der Treppe der Kathedrale aus. Unten auf den Stufen sind überall Matrosen. Man sagt mir: „Hier gibt es noch viele ,Vaterlandsverteidiger', seien Sie vorsichtig." Vorsicht lässt sich jedoch mit meiner Leidenschaftlichkeit und mit dem Auftrag des Zentralkomitees nicht vereinbaren. Wer braucht den Krieg? Verbrüderung! Sowjets!

Dann geht es auf die Kriegsschiffe. Ich werde mit einem Kutter hingebracht. Schmale, unbequeme Stiegen. Die Matrosen helfen mir fürsorglich. Bei der Kundgebung auf den Schiffen finden sich unter den Matrosen auch Offiziere. Ich donnere gegen die „Sozialpatrioten", gegen das Kerenskiregime, gegen die Koalitionsregierung los. „Für die Sowjets!", „Für die Verbrüderung!", „Für die Übergabe des Grund und Bodens an die Bauern!", „Nieder mit dem imperialistischen Krieg!" Von Seiten der Sozialrevolutionäre mit ihrer Losung von der „Vaterlandsverteidigung" werden Einwände laut. Es kommt zur Diskussion. Ich überzeuge weniger durch Argumente als vielmehr dank der Stimmung der Matrosen, die sich bereits zum Bolschewismus hingezogen fühlen. Und so geht es von Schiff zu Schiff.

Am Abend findet im Sowjet eine große Versammlung statt. Im Saal ist eine Menge Intelligenz, in den ersten Reihen sitzen Offiziere. Von ihnen geht Kälte aus. Doch weiter hinten in dem überfüllten Saal sehe ich die prächtigen offenen Gesichter der Matrosen. Mit ihnen weiß ich mich einig. Tosender Beifall bricht das Eis in den vorderen Reihen, bringt es zum Schmelzen. Am Schluss der Versammlung sind auch diese Reihen gewonnen. Die Stimmung ist auf unserer, der Bolschewiki Seite.

Am Ausgang grüßt mich ein Marineoffizier. Wer ist das? Mischenka Bukowski, ein Freund aus der Kindheit. Er begleitet mich bis zum Hotel und erkundigt sich mit herzlicher Anteilnahme, wie es mir so geht – wo ich lebe und wie, ob das nicht ermüdend sei für mich. Er ist Kapitän auf einem Minensuchboot mit dem revolutionären Namen „Wsryw" (deutsch „Ausbruch". Die Red.). Er selbst indessen ist weder Bolschewik noch Sozialrevolutionär. Nichts. Die sich entwickelnden Ereignisse befremden und erschrecken ihn durch ihre Unbegreiflichkeit.

Der nächste Tag bringt bereits den rein sachlichen Teil des Parteitages der finnischen Sozialdemokraten. Ein anstrengender Tag. Beratungen und Diskussionen in Gruppen oder mit einzelnen Personen. Man widerspricht mir nicht so sehr, hüllt sich vielmehr in Schweigen. So geht es nicht! Wer gibt hier den Ton an? Pärsinen rät mir, ich solle mich mit Kuusinen verständigen. Ich fahre zu ihm in die Redaktion. Die Zustimmung Kuusinens zum Austritt aus der II. Internationale habe ich erhalten, doch der Anschluss an die Zimmerwalder Linke stößt noch auf Einwände. Der Resolutionsentwurf ist restlos durchkreuzt.

Wir verabschieden uns. Kuusinen verspricht, die Sache mit dem Zentralkomitee zu besprechen, und dann werde ich morgen den Vorschlag unterbreiten. Morgen kommt es zum wichtigsten, zu einem verantwortungsvollen Gefecht. Doch die Argumente sind so klar und meiner Meinung nach so überzeugend, dass es eigentlich gar nichts weiter zu sagen gibt.

Am Ausgang geht Mischenka auf und ab. „Was machen Sie denn hier?"

Ich wusste doch, dass Sie hier sind. Ich warte schon seit zwei Stunden auf Sie. Ich habe nachgefragt, und da hieß es, Sie seien noch dort."

Wir gehen zusammen bis zum Sowjet, dort findet eine Sitzung statt, an der ich teilnehmen soll.

Sind Sie denn nicht müde? Haben Sie etwas gegessen?"

Eigentlich nicht", sage ich und verspüre kämpferische, übermütige Fröhlichkeit und persönliche Freude. Jemand hat sich nach mir erkundigt, hat gefragt, ob ich nicht Hunger hätte.

Wir gehen in ein Café. Bei einem Imbiss und Kaffee unterhalten wir uns über längst vergangene Zeiten, die uns wie ein Traum vorkommen, über Kuusa, über meine Eltern …

Dann gehe ich zur Sitzung des Sowjets. Den Vorsitz führt der konfuse Scheiman. Wiederum heftige Diskussionen mit den Sozialrevolutionären. Die Menschewiki trotten hier den Sozialrevolutionären hinterdrein. Ich verspüre keinerlei Müdigkeit, gehe erneut völlig auf im Allgemeinen, in meiner Aufgabe, bin voller Elan.

Ich halte meine Rede auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Finnlands. Der Sache bringt sie Gewinn. Die Resolution ist vorgeschlagen worden, über sie wurde abgestimmt. Rovio gratuliert mir zum Sieg. Wir gehen in den Brunnsparken, reden über den Bolschewismus, über den Krieg und über das Kerenskiregime. Anschließend wieder eine Kundgebung. Mit dem Abendzug zurück nach Petrograd. Man hat mir einen Schlafwagenplatz besorgt.

Bis zur Abfahrt bleibt noch eine halbe Stunde. Ich laufe rasch ins „Fenia", an der Tür steht Mischenka. „Ich habe noch nicht gepackt, bin schrecklich in Eile." „Ich kann packen helfen, Schurotschka."

Schurotschka? Das klingt komisch und stimmt mich froh. „Na, dann helfen Sie mir, Mischenka."

Und er hat mir geholfen, ist die Hotelrechnung für mich bezahlen gegangen und hat mich zum Zug gebracht. Dort hatten sich Genossen, Seeleute und finnische Sozialdemokraten eingefunden. Mischa zog sich zurück. Im Abteil lagen dann Rosen, natürlich von ihm.

So kommt zum großen Enthusiasmus in der Sache, zu dem Siegesgefühl (der Auftrag des Zentralkomitees ist ausgeführt) noch die eigene strahlende Freude. Niemand weiß etwas davon, mich aber stimmt es froh. Mischenka, Freund aus der Kinderzeit, hab Dank, mein Lieber! Du hast mir wohlgetan.

1 „Okopnaja Prawda" (Schützengrabenprawda) - bolschewistische Zeitung, die von April 1917 bis Februar 1918 anfangs in Riga, später in Wenden erschien.

2 Gemeint sind die Militärorganisationen der SDAPR(B) („Wojenka"), die zur Leitung der revolutionären Arbeit in den Truppenteilen und zur Schaffung und Stärkung der bewaffneten Kräfte der Revolution gebildet worden waren.

3 Die Broschüre „Wer braucht den Krieg?" schrieb Alexandra Kollontai im Jahre 1915. Nachdem sie von Lenin redigiert worden war, wurde sie 1916 vom Zentralkomitee der Partei in Bern und vom Petersburger Komitee herausgegeben. Nach der Februarrevolution von 1917 wurde die Broschüre von der Partei neu aufgelegt (in Petrograd, Helsingfors und Minsk).

4 Mit „kapitalistischen Ministern" sind die Mitglieder der Provisorischen Regierung gemeint, die die bürgerlichen Parteien vertraten.

5 Als „sozialistische Minister" wurden in jener Zeit die Vertreter der „sozialistischen" Parteien der Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Volkssozialisten bezeichnet, die den Provisorischen Koalitionsregierungen angehörten. Die erste Koalitionsregierung wurde am 5. (18.) Mai 1917 gebildet.

6 Die „Freiheitsanleihe" wurde von der Provisorischen Regierung zur Finanzierung der Kriegsausgaben aufgelegt; die Subskription für die Anleihe begann am 6. (19.) April 1917.

7 Zentralkomitee der Baltischen Flotte – höchstes gewähltes Organ aller Flottenkomitees, das Ende April 1917 auf Initiative der Matrosenorganisationen mit Sitz in Helsingfors (Helsinki), dem Hauptstützpunkt der Flotte, gebildet worden war.

8 „Wolna" (Die Woge) – bolschewistische Tageszeitung, die 1917 als Organ der Sweaborger Matrosengruppe der SDAPR und später des Helsingforser Komitees der SDAPR(B) herausgegeben wurde. Nach dem Verbot durch die Provisorische Regierung im Juli erschien sie unter der Bezeichnung „Priboi" (Die Brandung). Insgesamt erschienen 88 Nummern.

9 Der Außerordentliche Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Finnlands fand vom 2. bis 6. (15.-19.) Juni 1917 in Helsingfors statt. Auf dem Parteitag kam es zum Kampf zwischen den beiden Strömungen in der Partei – der opportunistischen und der revolutionären. Alexandra Kollontai war auf dem Parteitag zugegen und sprach als Vertreterin des Zentralkomitees der SDAPR(B). Nach ihrer Rückkehr nach Russland veröffentlichte sie am 13. (26.) Juni in der „Prawda" den Artikel „Der Außerordentliche Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Finnlands". Die Rede, die Alexandra Kollontai am 17. Juni auf dem IX. Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Finnlands hielt, ist in „Ausgewählte Aufsätze und Reden", S. 214–216, russ., veröffentlicht.

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