Redaktion 19171027 Die Welle der Volkserbitterung in Russland

Redaktion: Die Welle der Volkserbitterung in Russland

[Nach Bote der Russischen Revolution. Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) Nr. 7, 27. Okt. 1917, S. 7-10]

Seit einem Monat wälzt sich eine Welle der steigenden Volkserregung durch Russland. Sie schäumt in den Arbeiterquartieren, sie verwüstet die Felder und brandet an die Front heran.

Russland geht barfuß herum. Aber im Moskauer Rayon stehen die Lederfabriken still. Die kapitalistische Presse schäumt deswegen gegen die Arbeiter. Sie vergisst nur zu sagen, weswegen die Arbeiter streiken. Sie streiken, weil die Herrn Fabrikanten in der Revolution, die den Zarismus abgeschafft hat, die Selbstherrschaft des Kapitals proklamieren. Sie allein sollen über die Anstellung und Kündigung der Arbeiter zu bestimmen haben. Das wollen sich die Arbeiter nicht gefallen lassen. Sie widersetzen sich der Entlassung nicht, wenn das die Lage des Betriebs erfordert, aber sie wollen die Kontrolle darüber haben, ob ein Arbeiter nicht wegen politischer Missbilligung aufs Pflaster geworfen wird. Die Kapitalisten wollen nicht nachgeben und die Regierung der russischen Revolution findet keine Mittel zur Zähmung der kapitalistischen Willkür. Drum mögen die Soldaten ohne Schuhe bleiben, die Arbeiter ohne Brot. Die Lederfabrikanten werden an dem Streik noch ein gutes Geschäft machen. Sie werden die Lederpreise wegen Mangel an Leder erhöben können.

Der Herbst hat schon die langen Abende gebracht. Petroleum ist in den Kleinstädten und Dörfern Russlands das einzige Beleuchtungsmittel Ein großer Teil der russischen Eisenbahnen und Fabriken ist auf Heizung mit Mineralöl eingerichtet. Die Armee brauch Benzin. Aber die ausländischen und russischen Herrn des Petroleumtrustes beginnen jetzt mit den Arbeitern denselben Kampf um das Herrn-im-eigenem-Hause-System, wie die Lederfabrikanten. Inzwischen steht die ganze Baku-Petroleum-Industrie, was auf dem vulkanischem Boden von Baku zu stürmischen Kämpfen führen kann.

Seit dem ersten Tag der Revolution gärt es in den Gruben des Donezgebietes. Die Kapitalisten, die am Kriege Milliarden verdient haben, erklärten jede Forderung der Arbeiter als unerfüllbar. Die Regierung sendet eine Kommission nach der anderen, kommt jedoch nicht dazu, zusammen mit den Vertretern der Arbeiter Sätze über die Arbeitsbedingungen auszuarbeiten. Ja, sie greift nicht ein, wenn die Arbeiter den Beweis erbringen, dass die Kapitalisten unter dem Vorwand des Mangels an Rohstoffen die Betriebe einstellen, obwohl Rohstoffe vorhanden sind. So streiken wieder 100 Tausend Arbeiter im Donezgebiet, obwohl der Mangel an Kohle direkt katastrophalen Umfang annimmt.

Schon brach der Streik der Eisenbahner aus und wurde mit Mühe und Not in letzten Augenblick wieder abgebrochen. Die bürgerliche Presse – die Organe des Sozialpatriotismus mit eingeschlossen – heult über den Verrat der Eisenbahner. Wie es aber zum Streik kam, das möge man aus dem Bericht des Djelo Naroda ersehen, des Zentralorgans der Sozialisten-Revolutionäre: „Sieben Monate warten schon die Eisenbahner geduldig auf die Erfüllung der Versprechungen über die Besserung ihrer Lage, über die Festsetzung eines neuen Lohntarifs. Sieben Monate schon wandert diese Frage von einer Kommission, in die andere. Und die Eisenbahner hungern bis zu diesem Tage und warten auf Hilfe. Und ihre Not ist groß. Die Masse der Eisenbahner hat nach so langem Warten endgültig das Vertrauen zu allerhand Kommissionen verloren und dieses Wort allein genügt, um sie in Wallung zu bringen. Mit großer Mühe hielt die Leitung des Eisenbahnerverbandes die Mitglieder von spontanen, systemlosen, separaten Aktionen einzelner Linien und Werksstätte zurück. Überall fand das Zentralkomitee die vollkommene Unterstützung der Linienkomitees. Aber die Geduld der Eisenbahner, die jedes Vertrauen zu Mahnungen und Versprechen verloren haben, war zu Ende. Von einer Werkstatt in die andere, von einer Linie in die andere sprang die Welle der aktiven Entrüstung über." Schließlich wurde noch eine Kommission unter der Leitung des Gehilfen des Ministers der Arbeit, Gwosdjews, gebildet, die einen Lohntarif ausarbeitete. Welch ungeheuren Luxus sie den Eisenbahnern zuerkannte, ergibt sich daraus, dass die Mindestlöhne für die nicht qualifizierten Arbeiter 140 Rbl., die Höchstlöhne für die best qualifizierten Arbeiter keine 400 Rubel betrugen, was bei der jetzigen Teuerung Hungerlöhne bedeute. Aber selbst diese Resultate der Arbeit der Kommission Gwosdjews wurden von der Regierung nicht akzeptiert, so dass es schließlich zum Streik kam, unter dessen Druck Herr Kerenski sich schließlich daran erinnerte, dass man mit der Gewalt allein nicht herrschen kann.

Noch schlechter ist die Lage im Dorfe. Dem Bauer hat die Revolution nichts gegeben. Sie versprach ihm Land und Freiheit. Aber mit bloßen Versprechen lässt sich der Bauer schwerlich zufrieden stellen. Da hat ihm seine Erfahrung schon zu viel bittere Lehren hinterlassen. Nun sieht er wie die reichen Bauern im Einvernehmen mit den Großgutsbesitzern sich an den Höchstpreisen für Getreide bereichern, während er Brot für teures Geld zukaufen muss. An vielen Orten verlassen die Junker ihre Besitzungen aus Angst vor den Bauern. Aber wehe dem Habenichts, der ihren Acker bestellen wollte. Die Soldatenfrauen können den Acker nicht bearbeiten, weil ihnen die Arbeitskraft fehlt. Aber die Kriegsgefangenen werden in erster Linie den Junkern zur Verfügung gestellt. Bisher zahlten die Junker den Kleinbauern und Landarbeitern, die ihnen aushalfen, in Natura: mit Getreide. Seitdem aber der Rubel [un]unterbrochen im Werte fällt und man angesichts des Mangels an Produkten des Massenbrauchs nichts kaufen kann, gehen die Junker zum Geldlohn über. Die Regierung predigt den Bauern ununterbrochen Geduld bis zur Konstituierenden Versammlung. Nun, die russischen Bauern haben wohl die Geschichte der Französischen Revolution nicht gelesen, sie wissen nicht, dass der, der besitzt, niemals noch einem parlamentarischen Akt sein Besitz geopfert hat; sie könnten es zwar nicht historisch beweisen, dass die Besitzlosen bisher immer von Parlamenten nur das zugebilligt bekamen, was sie schon selbst erobert hatten. Aber sie sehen, dass sie wegen jedes Aktes gegen die heiligen Rechte des junkerlichen Besitzes mit Gefängnisstrafen belegt werden, dass man gegen sie Kosakenexpeditionen organisiert. Da sagen sie sich: die Herrn in der Stadt wollen uns wieder betrügen. Und so geht über halb Russland eine Welle der Bauernpogrome. Im Gouvernement Tambow, Saratow, Kursk, Rjasan, in Wolhynien, Podolien usw. bemächtigen sich die Bauern des junkerlichen Grundbesitzes, sie plündern das Inventar, wobei es oft unter den Teilnehmern der Junkerexpropriation selbst zu Kämpfen kommt. Oft geben das Signal zu den Junkerpogromen Urlauber, an einzeln Stellen sollen kriminelle Elemente sich eingemischt haben, denen es natürlich um das Fischen im Trüben geht. Die Regierung mobilisiert überall gegen die Bauern die Kosaken, wobei sie bei ihnen auf den sozialen Gegensatz spekuliert, in dem sie sich als Vertreter des wohlhabenden Bauerntums zu den armen plündernden Bauern befänden. Die Szenen der „Beruhigung" der Bauern durch die Kosaken, die sich z. B. im Bezirk Koslow abgespielt haben, erinnern vollkommen an die Strafexpeditionen des zarischen Regimes im Jahre 1905-06. Die Kosaken haben die Bauern niedergestochen, ihre Frauen vergewaltigt. Mit Mühe wurde verhütet, dass die Infanterieregimenter, die in der Nähe stationiert waren und von diesen Heldentaten der Schützlinge und Beschützer des Kerenskischen Regimes erfuhren, ihnen keine regelrechte Schlacht lieferten. Kurz und gut: während bisher durchschnittlich 70 Fälle agrarischer Unruhen monatlich vorkamen, sind in der zweiten Hälfte des Septembers nicht weniger als 267 Fälle vorgekommen. Wir brauchen nicht erst zu betonen, dass bei diesen Unruhen eine Unmenge von Gütern vollkommen verwüstet wird, dass die Unruhen nicht imstande sind irgend welche planmäßige Einteilung des junkerlichen Bodenbesitzes herbeizuführen. Die Agrarreform erfordert einen Plan für das ganze Reich. Aber diese Unruhen sind ein Symptom der Lage. Würde die Provisorische Regierung den Grund und Boden konfisziert haben, würde sie lokale Bezirks- und Gouvernementsbauernkomitees gebildet haben, die provisorisch unter Leitung der Agronomen den Boden bewirtschaften könnten, bis die Konstituierende Versammlung über die Besitzformen beschlossen hätte, die Bauernunruhen könnten zum großen Teil verhütet werden. Jetzt wird das Getreide, das den Städten und der Armee fehlt, verbrannt, und Herr Kerenski mit seinem Tross der Sozialisten-Revolutionäre, die die Interessen der Bauern ebenso verraten haben, wie die Menschewiki die Interessen der Arbeiter, leistet sich den Luxus noch einmal zu beweisen, dass der Grad der Bauernkultur in Russland niedrig ist.

Die Gärung im Proletariat und im Bauerntum fällt zusammen mit der steigenden Unzufriedenheit der Soldatenmasse, die in Millionen im Hinterlande unnütz gehalten wird, der vollkommen das Gefühl fehlt, das sie zu irgendwelchem vernünftigen Zweck fern vom Heim, von Frau und Kind gehalten wird. Die Soldaten mischen sich in die Hungerdemonstrationen der städtischen Bevölkerung, oder gehen selbst auf die Suche nach den zurückgehaltenen Waren. Da die Händler größtenteils Juden sind, kommt es zu Judenpogromen.

Es sind schreckliche Tage, die jetzt Russland erlebt. Vom Westen stürmen die deutschen Heere, im Lande volle Desorganisation. Aber wie schrecklich die Zuckungen sind, so muss man ein Sykophant der Konterrevolution sein oder ein kopfloser revolutionärer Schöngeist, um nicht zu sehen, dass es ein Abwehrkampf der Volksmassen gegen den Marasmus der kleinbürgerlichen Regierung ist, ein Kampf, der vielleicht zur Bildung einer energischen revolutionären Regierung führen wird.

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