In
seiner Broschüre „Die soziale Revolution“, die noch vor der
Erfahrung der Revolution von 1905 und des Moskauer Dezemberaufstandes
verfasst wurde, schrieb Kautsky: „Wir haben aber keinen Grund,
anzunehmen, dass bewaffnete Insurrektionen mit Barrikadenkämpfen und
ähnlichen kriegerischen Vorkommnissen heute noch in Westeuropa jene
entscheidende Rolle spielen können, die sie ehedem gespielt haben.“
Aber im Jahre 1906, im Vorwort zur zweiten Auflage, schrieb er: „Ich
kann heute nicht mehr mit der Bestimmtheit, wie ich es damals noch
tat, erklären, dass bewaffnete Insurrektionen mit Barrikadenkämpfen
in den kommenden Revolutionen keine entscheidende Rolle mehr spielen
werden. Dagegen sprechen zu laut die Erfahrungen des Moskauer
Straßenkampfes, wo sich eine Handvoll Menschen über eine Woche lang
gegen eine ganze Armee im Barrikadenkämpfe behauptete und fast
siegte, wenn nicht das Versagen der revolutionären Bewegung in
anderen Städten erlaubt hätte, die Armee so zu verstärken, dass
schließlich eine ungeheure Übermacht gegen die Insurgenten
konzentriert war. Freilich war dieser relative Erfolg des
Barrikadenkampfes nur möglich, weil die Bevölkerung der Stadt die
Revolutionäre tatkräftig unterstützte und die Truppen total
demoralisiert waren. Aber wer kann mit Bestimmtheit behaupten, dass
etwas derartiges in Westeuropa unmöglich sei?“ Eine solche
Bewertung der Erfahrung des Dezemberaufstandes widersprach im
Wesentlichen der Bewertung durch Plechanow,
der erklärte, „man
hätte nicht zu den Waffen
greifen sollen“. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 3] Über die Notwendigkeit einer Revision der Schlussfolgerungen von Engels schrieb Kautsky in dem im „Vorwärts" vom 28. Januar 1906 mit der Unterschrift K. K. erschienenen Artikel: „Die Aussichten der russischen Revolution“. „Hier tritt“ – schrieb Kautsky – „noch ein Unterschied zwischen der Pariser Junischlacht und der Moskauer Dezemberschlacht zutage: beide waren Barrikadenkämpfe, aber jene bildeten die Katastrophe, den Abschluss der alten Barrikadentaktik, diese die Inaugurierung einer neuen Barrikadentaktik. Und insofern haben wir die Anschauung zu revidieren, die Friedrich Engels in seinem Vorwort zu den Marxschen ,Klassenkämpfen' niederlegt, die Anschauungen, als sei die Zeit der Barrikadenkämpfe endgültig vorbei. Nur die Zeit der alten Barrikadentaktik ist vorbei. Das hat die Schlacht von Moskau bewiesen, wo es einem Häuflein Insurgenten gelang, sich gegen überlegene, mit allen Mitteln der modernen Artillerie ausgerüstete Streitkräfte zwei Wochen lang zu behaupten.“ [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 3, Anm. 101] |
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