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Aussperrungen 1914

Im März 1914 kamen in der Gummimanufaktur der Aktiengesellschaft „Prowodnik" in Riga und in der Fabrik „Treugolnik" in Petersburg Massenvergiftungen von Arbeitern und Arbeiterinnen vor, die am 26. (13.) März zu einem Proteststreik von 57.000 Arbeitern der Hauptstadt führten. In dem Bestreben, die Arbeiter zu politischen Kundgebungen zu provozieren, um die Streikbewegung leichter niederschlagen zu können, proklamierte die Vereinigung der Industriellen und Fabrikanten am 1. April (19.) März für eine Reihe von Unternehmungen die Aussperrung, von der 70.000 Arbeiter betroffen wurden.

Im Leitartikel „Die Aussperrungen" im „Putj Prawdy" vom 3. April (21. März) wurden die Arbeiter aufgefordert, auf die Provokation der Industriellen nicht einzugehen und ihre Organisiertheit zu festigen. Die Liquidatoren und die Narodniki forderten, anstatt die Reihen der Arbeiter zum Kampfe gegen die Offensive des Kapitals zusammenzuschließen, die Arbeiter auf, sich zu „beruhigen". Die Initiativgruppe der Petersburger Menschewiki (Liquidatoren) forderte in ihrem Aufruf an die Arbeiter in der „Sewernaja Rabotschaja Gaseta" vom 5. April (23. März) nur zur materiellen Unterstützung der Streikenden auf und verwies darauf, dass die Losung des politischen Massenstreiks nur eine desorganisierende Rolle spiele, ohne aber irgendeine andere Form des Kampfes vorzuschlagen. Martow verurteilte in einem Artikel „Im Hagel von Schlägen" in der „Sewernaja Rabotschaja Gaseta" vom 8. April (26. März) den eintägigen Proteststreik gegen die Aussperrung in dem Betriebe „Nowy Lessner", weil die Form dieses Streiks die Arbeitermassen „desorientiere". Die „Sewernaja Rabotschaja Gaseta" forderte zur „Vernunft", zur Abfassung zu nichts verpflichtender Resolutionen und zur Ausarbeitung von Petitionen auf, sie forderte die „Gesellschaft", darunter auch die Kadetten auf, eine materielle Unterstützung der Arbeiter zu organisieren (siehe die Artikel Martows „Wer bezahlt sie dafür?" vom 2. April [20. März], „Ich bereue und bitte um Entschuldigung" vom 4. April [22. März] und „Im Hagel von Schlägen" vom 8. April [26. März]). Das. Organ der Sozialrevolutionäre, „Stoikaja Mysl", schrieb am 8. April (26. März) in einem Artikel „Die Aufgabe des Augenblicks": „Man muss verstehen, dass die Arbeiterbewegung keine Kinderklapper für leichtsinnige politische Jünglinge ist." Die „Stoikaja Mysl" gab dabei keinerlei Perspektiven und beschränkte sich auf allgemeine Phrasen, wie: „Wir fordern zu klaren und mächtigen Kundgebungen auf."

Die Haltung der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre wurde im „Putj Prawdy" vom 9. April (27. März) in einem Artikel Kamenews „Bürgerliche und liquidatorische Bewertung" einer scharfen Kritik unterzogen. Das Petersburger Parteikomitee der Bolschewiki begann im Einverständnis mit dem Zentralkomitee die Vorbereitung einer revolutionären Demonstration für den 17. (4.) April, den zweiten Jahrestag des Gemetzels an der Lena, die zugleich auch eine Protestkundgebung gegen die Aussperrung und die Verfolgung der Arbeiter sein sollte.

Das ZK gab ein besonderes Flugblatt heraus, das mit der an die Arbeiter gerichteten Aufforderung schloss, am 17. (4.) April um 11 Uhr vormittags auf dem „Newski Prospekt" zu erscheinen.

Für denselben Tag war auch der Artikel Lenins in „Putj Prawdy" „Über die Formen der Arbeiterbewegung" bestimmt, in welchem Lenin in einer der Zensur so weit wie möglich angepassten Form die Arbeiter zur Durchführung des Beschlusses der „Februarberatung von 1913" des ZK der SDAPR mit den Parteifunktionären (siehe Band XVI der Sämtlichen Werke) aufforderte; in diesem Beschlusse wurde von der Herausarbeitung „neuer Kampfformen zur Abwehr der Aussperrungen" und von der Ersetzung „des politischen Streiks durch revolutionäre Meetings und revolutionäre Straßenkundgebungen" gesprochen.

Am 17. (4.) April fand die Demonstration statt. Das Flugblatt des ZK hatte weite Verbreitung gefunden, und es wurde von ihm bereits am nächsten Tage in der „Rjetsch" sowie in anderen bürgerlichen Zeitungen geschrieben. Die „Sewernaja Rabotschaja Gaseta" vom 18. (5.) April jedoch verschwieg in ihrer Mitteilung über die Demonstration vom 17. (4.) April nicht nur die Verteilung des Flugblattes des Petersburger bolschewistischen Parteikomitees, sie druckte überdies am 24. (11.) April einen Artikel von A. W. Gorski (Dubois) „Die Aussperrung und die Taktik des ,konsequenten Marxismus'" ab, in welchem sich der Verfasser über die „Äsopische Sprache" des Artikels „Über die Formen der Arbeiterbewegung" lustig machte. (Als „äsopische Sprache" – nach dem griechischen Fabeldichter Äsops, der unter dem Deckmantel der Tierfabel Zustände und-Ereignisse der menschlichen Gesellschaft behandelte – wurde die Art und Weise bezeichnet, in der politische Fragen und Fragen der revolutionären Bewegung mit Rücksicht auf die Zensur in der legalen Presse behandelt werden mussten; es entspricht das dem deutschen Ausdruck „durch die Blume sprechen".)

Diesem Vorgehen der „Sewernaja Rabotschaja Gaseta" legte Lenin eine große Bedeutung bei, und er beleuchtete sie in dem Berichte des ZK der SDAPR an die Brüsseler Beratung. [Band 17]

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