Redaktion 19171013 Die dritte Zimmerwalder Konferenz

Redaktion: Die dritte Zimmerwalder Konferenz

[Nach Bote der Russischen Revolution. Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) Nr. 5, 13. Okt. 1917, S. 6-9]

Die Beschlüsse der dritten Zimmerwalder Konferenz sind bis heute aus äußeren Gründen nicht veröffentlicht worden. Der vor paar Tagen veröffentlichte allgemeine Bericht der ISK ermöglicht uns, wenn auch in beschränkten Grenzen, kritisch auf die Ergebnisse der Konferenz einzugehen.

Die Konferenz fand in der durch das Scheitern der Stockholmer sozialpatriotischen Konferenz erzeugten Atmosphäre statt. Das hatte für sie eine große Bedeutung. Nicht nur in dem rein äußeren Sinne: weil die sozialpatriotische Konferenz gescheitert ist, so konnten die deutschen und italienischen Zentrumsmänner an ihr nicht teilnehmen, womit die Spaltung verhindert wurde, die im entgegengesetzten Falle zweifellos im Lager von Zimmerwald eingetreten wäre. Wie das Scheitern der Stockholmer sozialpatriotischen Konferenz kein Zufallsereignis ist, so musste es auch seine politischen Folgen haben. Die Stockholmer Konferenz ist gescheitert an der Tatsache, dass das internationale Kapital nicht imstande ist, die Kräfte zu bändigen, die es im August 1914 auf die Menschheit losgelassen hat. Weil die kriegführenden Staaten den Frieden noch nicht schließen wollen – was nur ein Ausdruck ihrer Unfähigkeit ist, die imperialistischen Gegensätze zu überwinden – erlauben sie den Sozialpatrioten nicht, die Rolle der ehrlichen Makler zu übernehmen Das Truggebilde des „Verständigungsfriedens" ist zerflattert. Mag der Papst im Namen der reaktionärsten Macht der Welt die Konkursmasse des bankrotten Sozialpatriotismus aufzukaufen suchen, er wird den Regierungen – wenn das Ende des blutigen Ringens sie noch an dem Ruder sehen sollte – ganz gewiss ein viel mehr angenehmer Vermittler sein, als die immer noch an das Proletariat erinnernden Sozialpatrioten. Aber mehr Macht als sie hat die kat. Kirche nicht – jedenfalls wenn es sich um die Verwirklichung des Friedens gegen den Kapitalismus handelt. Und wenn Herr Czernin pazifistische Reden hält, von denen die offiziöse „Westminster Gazette" behauptet, jeder englische Minister könnte sie halten, denen Herr Huysmans, der offizielle Augur des nicht eröffneten Stockholmer Friedenstempels bescheinigt, er könnte sie auch nicht besser halten, so beweist das nur ihre Wahlverwandtschaft: die Zentral-Entente- und Sozialpatrioten-Diplomatie: sie gebrauchen dieselben Beschwörungsformel, aber deswegen ist der Friede um keinen Tag näher gerückt. Und darum verlieren die Beschwörungsformel der offiziellen und sozialpatriotischen Diplomatie ihren betörenden Einfluss auf die Arbeiterklasse und die ihrer Wortführer, die nicht genötigt sind, an dem faulen Zauber festzuhalten. Weil das Kapital sich unfähig zeigt, dem blutigen Gemetzel ein Ende zu bereiten, müssen selbst die Elemente, die einen kapitalistischen Kompromissfrieden als den einzig möglichen hielten, sich an das Wort Vergils erinnern, das Brandes zum Motto seiner Lassallebiografie gewählt hatte: flectere si nequeo superos, Acheronta movebo!1

Die Zentrumselemente waren vor die Aufgabe gestellt: was weiter? Als. wir sie im Sommer des Jahren 1915, des zweiten Kriegsjahres, in Zimmerwald vor die selbe Frage stellten, wollten sie sie gar nicht beantworten. Die Aufgabe der internationalen Elemente sahen sie im Protest, nicht im Kampfe, nicht nur, weil sie sich vollkommen ohnmächtig fühlten, sondern weil sie überzeugt waren, dass der Kapitalismus aus der Sackgasse bald einen Ausweg finden wird, die Friedensfrage ebenso ohne Proletariat lösen wird, wie er die Kriegsfrage gelöst hatte. Inzwischen vergingen zwei weitere Jahre. Überall gärt es in den Volksmassen. In Russland ist die Revolution ausgebrochen und sie droht weißzubluten, sich allein überlassen. Die Irrlichter des diplomatischen „Verständigungsfriedens" sind wieder mal verschwunden. Da müssten die Zentrumsleute aller Länder auf die Frage: was weiter? antworten, die ihnen vom Leben gestellt wurde. Die Zimmerwalder Konferenz fand statt unter dem Zeichen dieser Frage.

In Italien hat die revolutionäre Krise schon eingesetzt. Die spontanen Streiks und Demonstrationen, die Kundgebungen der Soldaten, die Hungerunruhen, alles das machte die rein protestlerische Haltung der Partei unmöglich. Zwischen der Partei und den Arbeitermassen begann sich ein Gegensatz auszubilden: so gingen die Arbeiter Mailands am 1. Mai entgegen der Parteiparole auf die Straßen: genug der Reden, es gilt zu handeln! – erklärten sie den Parteiführern, die sie aufhielten mit einer Rede Turatis. Die spontanen Massenbewegungen nötigten die Partei Stellung zu nehmen: nicht nur im Parlament, sondern in der Werkstatt und auf der Straße. Und eine Reihe von Organisationen, darunter die größten der Partei, erklären in einem Antrag an den Parteitag: unseres Erachtens ist die Zeit der einfachen Defensive, des rein negativen Abwartens vorbei. Die Partei muss vor allem alle Äußerungen desavouieren, die von Unsicherheit und Unentschlossenheit getragen sind, und die deprimierend auf den klaren und unversöhnlichen Oppositionsgeist der Massen wirken. Die Partei soll aus unangebrachten Rücksichten auf die Heikelheit der gegenwärtigen Lage die Massenbewegungen nicht verkennen und vor allem nicht desavouieren, weil sie zweifelsohne versprechende Anzeichen darstellen; vielleicht auch Vorläufer derjenigen großartigen Ereignisse, die in Russland bereits den Weg zu geschichtlichen Umwälzungen geebnet … Die Partei muss eingedenk sein, dass die Gewalt die Geburtshelferin aller alter Gesellschaftsformen, in deren Schoße sich neue verbergen, dass sie das Mittel ist, wodurch die geschichtliche Bewegung vor sich geht und die abgelebten politischen Formen überwunden werden. Die Antragsteller fordern den Parteitag der italienischen Sozialdemokratie auf, in Anbetracht des Bankrotts der bürgerlichen Gesellschaft, die sich als Ende und Folge des Krieges voraussehen lässt, das Recht des Proletariats aller Länder auf Proklamierung der Diktatur des Proletariats zu verkünden … Angesichts der als Folge der allgemeinen stets wachsenden Unzufriedenheit zu erwartenden Unruhen, soll die Partei diejenigen Agitationen, die einen revolutionären Charakter tragen, leiten und koordinieren, um sie zu einem erfolgreichem Ende zu bringen, zwecks Erzwingung eines sofortigeren Friedens und der Weiterführung des Kampfes gegen alle bürgerlichen Institutionen, nicht nur auf politischen Boden sondern durch das sozialistische Kampfmittel der kapitalistischen Expropriation." Dieser Standpunkt des Linken Flügels der italienischen Partei trifft noch zweifelsohne bei dem aus reformistischen Kreisen entstammendem Teil ihrer Führer (Turati, Treves) Widerstand, aber es unterliegt keinem Zweifel, das er zur Praxis der Partei wird. Ihre Haltung den Turiner Ereignissen gegenüber beweist es. Die italienischen Genossen konnten an der Konferenz nicht teilnehmen Aber dasselbe Bild der Lage und der Auffassung von der Notwendigkeit der Massenaktionen, der Unterstützung der spontanen und des Hinarbeitens auf organisierte, lieferten die Berichte der größten Zentrumsorganisationen. Das, worum die Zimmerwalder Linke auf den früheren Konferenzen gekämpft hat, bildete jetzt die allgemeine Auffassung der Konferenz. Aber die Anerkennung der Notwendigkeit der Taktik der Massenbewegungen bedeutet keinesfalls schon die Verständnis ihrer Vorbedingung. Als die Zimmerwalder Linke von der 1. Zimmerwalder Konferenz das Einschlagen des Weges der Massenaktionen forderte, waren sie als spontane Bewegungen noch nicht vorhanden. Dass man sie nicht künstlich schaffen kann, wussten die Vertreter der Linken gut, und nicht um Putsche handelte es sich für sie, sondern um den allgemeinen Charakter der Parteiaktion und Parteiagitation, die geeignet sein können in den Vorderreihen des Proletariats den Willen zu verschärften Kampfmitteln, die Verständnis für sie zu fördern, oder zu.hemmen. Die Zentrumsleute wenden sich aus Verzweiflung dem Gedanken der Massenaktion zu. Wir begrüßen es. Aber gleichzeitig müssten wir den Kampf führen gegen ihre Unverständnis der Bedingungen solcher Aktion. Wir müssten den Gedanken an die Möglichkeit der Proklamierung und Inszenierung im Vorhinein internationaler und gleichzeitiger Aktionen bekämpfen, der Gedanke an welche den Überrest des alten Bedürfnisses nach internationaler Rückendeckung bildet. Das Stärkeverhältnis ist in verschiedenen Ländern verschieden. Würde eine internationalistische Organisation eines Landes die Proletarier ihres Landes zum Kampfe auffordern mit der Begründung, er werde in anderen Ländern gleichzeitig entbrennen, sie würde die Gefahr laufen, Enttäuschungen in der Arbeiterklasse des eigenen Landes zu erzeugen. Die russische Revolution hat schon Änderungen in der Arbeiterbewegung aller Länder erzeugt.

Selbst die Vertreter der Sowjets. brachten von ihrer französischen und italienischen Reise die Kunde von der Stärkung der revolutionären Stimmungen in den Ententeländern. Aber würden die russischen revolutionären Sozialdemokraten den russischen Arbeitermassen vorher gesagt haben: macht nur die Revolution, die anderen werden es gleichzeitig machen, sie stünden heute vor dem russischen Proletariat, als Erwecker unbegründeter Hoffnungen. Sie haben es nicht getan. Sie haben den russischen Arbeitern gesagt: aus der schrecklichen Lage, in die das Kapital die Arbeiterklasse der Welt versetzt, gibt es nur einen Ausweg: die Weltrevolution; das Proletariat jedes Landes muss für sie arbeiten, ohne auf das andere zu warten. Nur die über die Grenzen schlagende Lohe kann den Proletariern der anderen Ländern die Kunde bringen von dem begonnenen Kampfe; nur sie kann das Proletariat anderer Länder zum Kampfe anfeuern. Wie schnell er sich entwickeln kann, lässt sich nicht berechnen, und niemand kann sich für das Tempo der Bewegung in seinem Lande verbürgen. Natürlich können aus dem verschiedenen Tempo der Entwicklung in verschiedenen Ländern für die, in denen die Ereignisse am meistens fortgeschritten sind, sich verzweifelte Situationen ergeben, aber einen anderen Weg gibt es nicht. Die kapitalistischen Regierungen hatten auch keine Garantie des Sieges, als sie den Krieg entfesselten. Diese Auffassung hat die russische Revolution voll bestätigt: ein Teil ihrer tragischen Lage besteht eben in dem zu langsamen Tempo des Kampfes der proletarischen Massen um den Frieden in anderen Ländern. Natürlich, jedes neue Land, das in die Bewegung eintritt, mindert die Gefahr, dass es isoliert bleibt. Würde die deutsche Arbeiterklasse dem Beispiel der russischen gefolgt sein, es gebe heute keinen Krieg mehr. Natürlich sollen wir nicht darauf verzichten, zu versuchen, die Bewegungen einzelner proletarischen Armeen zu konzentrieren, zu verbinden – die Zimmerwalder Bewegung hat es immer getan und wird es weiter tun – aber eine internationale Revolution kann sich erst aus dem sich verschärfendem Kampfe der Arbeiterklasse in einzelnen Ländern ergeben, wie allgemeine umwälzende Bewegungen in jedem Lande nur aus den spontanen und organisierten Teilbewegungen entstehen können.

Nicht ein einzelner internationaler Akt steht vor dem Proletariat, sondern der Prozess der Verschärfung aller Kampfesmittel, der Einsetzung aller Kräfte in jedem einzelnem Lande. Dass sie die Notwendigkeit dieser allgemeinen Verschärfung der Taktik verstanden hat, dass sie zu ihr international den Impuls gab, war ein Schritt vorwärts der 3. Zimmerwalder Konferenz. Dass dieser Schritt vorwärts aus einem allgemeinen Gefühl der Notwendigkeit getan wurde, dass niemand zu ihm gedrängt werden musste, dass Organisationen, die bisher am wenigsten zu der Taktik der Massenaktion neigten, diesmal von selbst als Initiatoren auftraten – mochte das in Gedankenformen geschehen sein, die wir als Überbleibsel alter zentrümlicher Ideologie auffassten – darin liegt ein Signum der Zeit. Und das legte den Vertretern der Organisationen, die bereit waren die Zimmerwalder Bewegung zu verlassen, falls sie sich auf Kompromisse mit den Sozialpatrioten einlassen würde, die Pflicht auf, den Willen zum Schritt nach vorwärts in ihr zu unterstützen und als er – inwieweit dies eine Konferenz tun kann – getan wurde, in der Zimmerwalder Vereinigung zu verbleiben.

Aber vom Entschluss der Führer bis zur Politik der von ihnen vertretenen Parteien ist noch ein weiter Weg. Wenn die Haltung der Führer der Zimmerwalder Rechten einen Schritt nach vorwärts darstellt, so können wir jedoch nicht vergessen, dass es sich nicht um eine durchdachte Auffassung der historischen Situation handelt, sondern um eine Entscheidung unter ihrem Drucke. Die Zimmerwalder Linke konnte sich von der Rechten nicht trennen im Moment, wo diese einen Schritt nach links machen will. Aber jeder verfrühte Optimismus im Bezug auf die weitere Entwicklung der zentrümlichen Elemente wäre verfrüht. Wo sie stehen werden, wenn die kapitalistischen Regierungen den Frieden schließen werden, wissen wir nicht Der Sache des Kampfes um den Frieden, der Sache der proletarischen Revolution dienen die bewussten Elemente der Zimmerwalder Bewegung am besten, wenn sie ihre Selbständigkeit bewahren, alle Halbheiten der Zentrumselemente bekämpfen, was keinesfalls verhindert, mit den Zentrumselementen zusammen zu gehen, wenn wir sie auf unseren Kampfbahnen treffen.

Die erste Zimmerwalder Konferenz war ein Ruf zum Kampfe. Die zweite suchte den schon vorhandenen Zimmerwalder Kampfesreihen die Marschroute zu geben. Die dritte hat in der verzweifelten Situation, in der sich das internationale Proletariat vor dem vierten Winterfeldzug stehend, befindet, die Wahrheit über die internationale Situation der Arbeiterklasse gesagt, ihr den praktischen Weg des Kampfes gezeigt. Von dem, ob das Proletariat diesen Weg mit Energie beschreiten wird, hängen die Geschicke der Menschheit ab. Von dem, wie die Zimmerwalder Parteien ihre eigenen Beschlüsse ausführen, die Geschicke von Zimmerwald.

1„ Wenn ich die Oberen (die Götter des Himmels) nicht beugen kann, werde ich die (der) Unterwelt bewegen.“ (Zitat aus der Aeneis des Dichters Vergil, VII, 312)

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