Glossar‎ > ‎

Lenins Broschüre „Über die Naturalsteuer“

Die vorliegende Arbeit Lenins „Über die Naturalsteuer“, die im März-April 1921 geschrieben und im Mai des gleichen Jahres als Sonderbroschüre veröffentlicht wurde, bildet die wichtigste theoretische Arbeit Lenins über die Ökonomie und die ökonomische Politik der proletarischen Partei in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus und ist von ungeheurer Bedeutung für das Verständnis des Wesens der neuen ökonomischen Politik.

In dieser Abhandlung sind in geschliffenster und vollendetster Form die Ansichten Lenins über die neue ökonomische Politik des Proletariats in der Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus niedergelegt. Lenin zieht in dieser Schrift das Fazit der zurückgelegten Etappen der ökonomischen Politik der Sowjetmacht, zeichnet die Perspektiven der weiteren Entwicklung der Wirtschaft Sowjetrusslands und der Wirtschaftspolitik der proletarischen Diktatur vor und definiert die Ziele dieser Politik als den Sieg der sozialistischen Elemente über die kapitalistischen sowie die sozialistische Umgestaltung der Kleinwirtschaft.

Doch wenn wir die Bedeutung der Broschüre „Über die Naturalsteuer“ als die einer verallgemeinernden Arbeit über die ökonomische Politik der proletarischen Partei in der Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus definieren, dürfen wir diese Broschüre nicht von den konkreten historischen Bedingungen loslösen, unter denen sie geschrieben wurde. Man darf die konkrete historische „politische Lage“ nicht vergessen, in der diese Broschüre geschrieben wurde, man darf die wirtschaftliche und politische Krise nicht außer Acht lassen, in der sich das Land der Sowjets damals noch befand.

Auch bei Lenin selbst finden wir im Plan und im Konzept der Broschüre „Über die Naturalsteuer“ den Entwurf des folgenden Titels: „Ersetzung der Zwangsumlage durch eine Steuer im Zusammenhang mit den besonderen Bedingungen der gegebenen politischen Lage“. Diese „gegebene politische Lage“ muss beim Studium der vorliegenden Schrift Lenins unbedingt im Auge behalten werden.

Gleich am Anfang der Broschüre weist Lenin darauf hin, dass die Ökonomie Sowjetrusslands im Jahre 1921 mit der Ökonomie des Jahres 1918 sehr viel gemein hat. Deshalb wendet er vieles von dem, was er 1918 gesagt hatte, auch auf das Jahr 1921 an und bringt lange Auszüge aus seiner 1918 geschriebenen Broschüre: „Über ,linke' Kinderei und Kleinbürgerlichkeit“.

In diesen Auszügen sagt Lenin: „Der Sozialismus ist undenkbar … ohne die Herrschaft des Proletariats im Staate“, d. h. ohne die Diktatur des Proletariats. Er spricht davon, dass eine Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Kommunismus, verbunden mit „langen Geburtswehen“ der neuen Gesellschaft, unvermeidlich ist, wobei in der Übergangsperiode Elemente des Neuen und des Alten vorhanden sind und zwischen ihnen sich ein erbitterter Kampf abspielt.

Lenin wies darauf hin, dass in der Wirtschaft des Sowjetlandes fünf „Typen von Wirtschaftsformen“ vorhanden seien, und betonte: „In Russland überwiegt jetzt gerade der kleinbürgerliche Kapitalismus, von dem sowohl zum Staatskapitalismus als auch zum Sozialismus ein und derselbe Weg führt, der Weg über ein und dieselbe Zwischenstation, die ,allgemeine Rechnungslegung und Kontrolle über die Produktion und die Verteilung der Produkte' heißt“.

Die Rechnungslegung und Kontrolle bezeichnete Lenin im Jahre 1918 als die Hauptaufgabe und das wichtigste Kampfmittel gegen den privatwirtschaftlichen Kapitalismus, für die Unterordnung der kleinbürgerlichen Anarchie unter die proletarische Führung. Im Zusammenhang damit sprach er davon, dass es – die Staatsmacht in den Händen des Proletariats vorausgesetzt – zulässig sei, Formen des Staatskapitalismus auszunützen, d. h. eines Kapitalismus, der sich der Kontrolle und der statistischen Erfassung durch den proletarischen Staat unterordnet.

Im Jahre 1921 waren „die Grundelemente unserer Wirtschaft dieselben geblieben“ (Lenin), d. h. nach wie vor überwog noch die kleinbürgerliche Produktion. Doch hatten sich die Umstände im Vergleich sowohl mit dem Jahr 1918 wie auch mit der Periode des Kriegskommunismus geändert. Es hatte sich eine „Nivellierung des Dorfes“ vollzogen, das Dorf war mittelbäuerlich geworden. Auch die Aufgaben des Bündnisses mit den Mittelbauern waren andere geworden. „Das Bündnis zwischen den Arbeitern und der Bauernschaft … gegen Denikin und Co. ist nicht dasselbe wie ihr Bündnis im ökonomischen Aufbau“ sagte Lenin. Die Bauernschaft hatte sich während des Bürgerkrieges mit der Zwangsumlage abgefunden, der Übergang zum friedlichen Aufbau erforderte dagegen andere Formen, die eine Festigung des Bündnisses mit der Bauernschaft gewährleisteten. Daher die Ersetzung der Zwangsumlage durch die Naturalsteuer und die Zulassung des freien Warenumsatzes zwischen Stadt und Land.

Die politische und ökonomische Krise im Frühjahr 1921, der äußerste Ruin der Wirtschaft des Sowjetlandes machten die sofortige Durchführung entschiedenster Maßnahmen zur Besserung der Lage der Bauernwirtschaft und zur Hebung ihrer Produktivkräfte unerlässlich Angesichts der entstandenen Lage musste man bei der Bauernschaft anfangen denn „zur Verbesserung der Lebenslage der Arbeiter sind Brot und Heizmaterial notwendig“ (Lenin). Beides aber konnte man nur bekommen durch eine Verbesserung der Lage der Bauernschaft und durch Hebung ihrer Produktivkräfte. Die Unmöglichkeit einer sofortigen Wiederherstellung der staatlichen Großindustrie machte gleichzeitig die Entwicklung der Kleinindustrie erforderlich, selbstverständlich unter der Bedingung, dass die Aufgabe der Wiederherstellung, Festigung und Entwicklung der sozialistischen Großindustrie als der „einzigen Basis des Sozialismus“ voll in Kraft blieb.

Bei der Behandlung aller dieser Aufgaben in der Broschüre „Über die Naturalsteuer“ wies Lenin darauf hin, dass sich auf dem Boden der Kleinwirtschaft und des Handels unweigerlich der Kapitalismus entwickeln werde. Die Aufgabe bestehe darin, „wie man die (bis zu einem gewissen Grade und für eine gewisse Frist) unvermeidliche Entwicklung des Kapitalismus in das Fahrwasser des Staatskapitalismus lenken soll“ … Die ganze Frage bestehe darin, wie man dafür die richtigen Methoden herausfinden und „wie man in naher Zukunft die Umwandlung des Staatskapitalismus in den Sozialismus sichern soll“.

Zu den wichtigsten Formen des Staatskapitalismus zählte Lenin die unter der Kontrolle des proletarischen Staates oder auf Grund von Verträgen mit diesem arbeitende kapitalistische Wirtschaft: Konzessionen, an kapitalistische Unternehmer verpachtete Staatsbetriebe, Heranziehung von Kapitalisten als Kaufleute, die als Kommissionäre staatliche Produktion absetzen oder für den Staat Rohstoffe beschaffen usw. Zu den staatskapitalistischen Formen zählte Lenin unter den Verhältnissen im Jahre 1921 auch die Genossenschaften der kleinen Warenproduzenten, wobei er betonte, dass die Genossenschaften auch in dieser staatskapitalistischen Form einen Weg zum Sozialismus bilden, da sie Millionenmassen vereinigen und zur Vergesellschaftung der Produktion führen.

Alle diese Formen sollten ausgenützt werden, um unter allen Umständen die Produktion im Sowjetland zu steigern, den Umsatz zwischen der Industrie und der Landwirtschaft zu beleben. Nicht nur der Staatskapitalismus, sondern auch der privatwirtschaftliche Kapitalismus sollte „bis zu einem gewissen Grade und für eine gewisse Frist“ als „Mittel zur Steigerung der Produktivkräfte“, als Mittel zur Belebung der Beziehungen zwischen Stadt und Land ausgenutzt werden.

Um die These Lenins von einer gewissen Nützlichkeit des Staatskapitalismus für Sowjetrussland in der damaligen Lage zu verstehen, muss man sich klar den Zustand vor Augen führen, in dem sich die Ökonomie des Sowjetlandes im Jahre 1921 befand. Die Produktion der Großindustrie war durchschnittlich auf ein Fünftel der Vorkriegsproduktion gesunken (die Produktion von Roheisen, Textilstoffen usw. war noch mehr zurückgegangen), die landwirtschaftliche Produktion hatte sich fast um die Hälfte verringert (im Jahre 1920 betrug die Getreideernte 2,2 Milliarden Pud gegen 4,3 Milliarden Pud vor dem Kriege). Die äußerste Zerrüttung der Wirtschaft und die Erschöpfung der Arbeiter- und Bauernmassen verlangten eine Steigerung der Produktion um jeden Preis. Das Dorf hatte sich in beträchtlichem Maße von der Stadt losgelöst, der Naturalcharakter der Landwirtschaft hatte sich verstärkt. Angesichts der ruinierten Großindustrie und der Unmöglichkeit für den Sowjetstaat, dem Dorfe sofort die notwendigen Waren zu liefern, war der unmittelbare Übergang von dem Patriarchalwesen, von der Kleinwirtschaft zum Sozialismus nicht möglich. Es mussten vermittelnde Wege und Methoden, Übergangsstufen ausgenutzt werden – der Staatskapitalismus, ja bis zu einem gewissen Grade selbst der privatwirtschaftliche Kapitalismus, der auf der Grundlage der kleinen Warenwirtschaft zwangsläufig wieder hervorwachsen musste. Das Ziel aller dieser Maßnahmen war und blieb jedoch die Wiederherstellung der sozialistischen Großindustrie, die Festigung des ganzen Systems der wirtschaftlichen Kommandohöhen der proletarischen Diktatur, um den Übergang der Kleinproduktion zum Sozialismus (durch die Genossenschaften und die Kollektivierung) vorzubereiten und zu erleichtern. Dieses Endziel lässt Lenin auch nicht einen Augenblick aus den Augen, er betont immer wieder, wie historisch bedingt die Notwendigkeit ist, den Kapitalismus „auszunutzen“. Besäßen wir eine wiederhergestellte sozialistische Großindustrie, hätten wir die Elektrifizierung durchgeführt, die Bauernschaft vergenossenschaftet, dann würde der Kapitalismus (auch in der staatskapitalistischen Form) aufhören, ein notwendiges „vermittelndes Glied“ zu sein, dann würde es „keiner Übergangsstufen, keiner vermittelnden Glieder zwischen den patriarchalischen Zuständen und dem Sozialismus bedürfen“ (Lenin).

Die „linken“ wie die rechten Opportunisten sind vollkommen unfähig, das von Lenin klar formulierte Wesen der neuen ökonomischen Politik zu begreifen, als eines Weges zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, der von Anfang an die Notwendigkeit des Übergangs zur Offensive auf den Bahnen der neuen ökonomischen Politik in einem bestimmten Moment zur Voraussetzung hatte. […]

Eine unzulässige opportunistische Entstellung des Leninismus in der Frage nach dem Wesen und den Aufgaben der neuen ökonomischen Politik war die Haltung der Rechtsopportunisten. […] Ein krasser Ausdruck des Rechtsopportunismus war die Behauptung des Genossen Frumkin im Jahre 1928, dass es gleichgültig sei, von wem man das Getreide bekomme, von dem Kulaken, dem Mittelbauern oder dem armen Bauern. Daraus zog Frumkin die Schlussfolgerung: „Wir dürfen die Produktion der Kulakenwirtschaften nicht hindern.“ Damit trat er für die uneingeschränkte Entwicklung des Kapitalismus auf dem flachen Lande ein, die mit der Sowjetmacht und der neuen ökonomischen Politik völlig unvereinbar ist. […]

Auch der Vorschlag der Gruppe des Genossen Bucharin, den uneingeschränkten freien Handel zu gestatten, war ein grober Fehler.

Die Rechten sahen nicht die neuen Produktionsformen der „Smytschka“ (des Zusammenschlusses der Arbeiter und der Bauern), die in den Beziehungen zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft in der gegebenen Etappe der neuen ökonomischen Politik zu den grundlegenden und ausschlaggebenden wurden. Die Rechtsopportunisten sind unfähig, das Wesen der neuen ökonomischen Politik zu begreifen. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 9, Anm. 56]

Kommentare