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Agrarbonapartismus nach 1905

Warum die Politik des zaristischen Absolutismus nach der Revolution 1905–1907 als „bürgerlich-bonapartistisch“, d. h. als eine Politik ähnlich jener Napoleons I. in Frankreich nach der Revolution von 1789–1793 und Napoleons III. nach der Revolution von 1848–1849, bezeichnet werden konnte, diese Frage behandelt Lenin ausführlich in seinem Artikel „Über die Einschätzung der gegenwärtigen Lage“, der vor der Dezemberkonferenz der Partei im Jahre 1908 zur Begründung eben dieses Entwurfes der Resolution „Über die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Partei“ geschrieben wurde. Das bonapartistische Regime verfügte bereits nicht mehr über die alte Stütze des Feudalismus und des Grundherrentums und war daher gezwungen, eine bürgerliche Politik zu machen, zugleich aber ein gewisses Gleichgewicht der Klassenkräfte zwischen Grundherrentum und Bourgeoisie aufrechtzuerhalten. Es blieb eine Monarchie der Gutsherren (darin unterschied es sich auch von beiden napoleonischen Monarchien), aber es war auch genötigt, eine bürgerliche Politik durchzuführen und sich auf die Bourgeoisie zu stützen, um auf diese Weise sich und die Grundherren zu retten Zugleich war es bestrebt, sich auf die vermögende Bauernschaft zu stützen. Der zaristische Absolutismus, der nach der Revolution von 1905 sich auf die Bourgeoisie stützte, suchte auch eine Stütze auf dem flachen Lande und stärkte die Oberschicht der Bauernschaft, das Großbauerntum, mit allen Kräften. Auf dem flachen Lande betrieb der zaristische Absolutismus auf seine Art, auf grundherrliche Art ebenfalls eine bürgerliche Politik, wobei er durch seine neue, die Stolypinsche Gesetzgebung, die Dorfgemeinschaft zerstörte, das Großbauerntum erweiterte und befestigte (siehe die Artikel „Die Agrarfrage und die gegenwärtige Lage in Russland“ und „Zur Frage der [allgemeinen] Agrarpolitik der gegenwärtigen Regierung“).

Diese Politik des Zarismus auf dem flachen Lande nannte Lenin einen agrarischen „Bonapartismus“. In dem Artikel „Zur Beurteilung der gegenwärtigen Lage“ schrieb er: „So hätte auch der Agrarbonapartismus Stolypins, der in diesem Punkte von den erzreaktionären Gutsbesitzern und von der oktobristischen Bourgeoisie ganz bewusst und konsequent unterstützt wird, gar nicht entstehen, geschweige denn, sich bald zwei Jahre halten können, wenn sich die Dorfgemeinschaft selbst in Russland nicht kapitalistisch entwickelte, wenn sich innerhalb der Dorfgemeinschaft nicht ständig Elemente bildeten, mit denen der Absolutismus sein Spiel treiben und denen er zu rufen konnte: „Bereichert Euch!“ und „Plündere die Dorfgemeinschaft, aber unterstütze mich!“. Auf diese Weise nützte die bonapartistische Agrarpolitik des zaristischen Absolutismus nach der Revolution von 1905–1907 zum Zwecke der Festigung der Herrschaft der Großgrundbesitzer eines der Ergebnisse des Einflusses der kapitalistischen Entwicklung Russlands auf das flache Land aus, und zwar die Schichtenbildung innerhalb der Landbevölkerung, die Herausbildung einer Schicht der bäuerlichen Bourgeoisie, des Großbauerntums. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 4, Anm. 7]

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