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Bebel und die russische Parteispaltung

Dieser Brief war die Antwort auf einen Brief Bebels an Lenin, datiert vom 3. Februar 1905, in welchem Bebel im Namen des Parteivorstandes der deutschen Sozialdemokratie ein Schiedsgericht zur Beilegung der Differenzen zwischen den Bolschewiki und Menschewiki vorschlug. Denselben Vorschlag richtete Bebel auch an die Menschewiki (abgedruckt in Nr. 86 der „Iskra" vom 16. Februar 1905). In der gleichen Nummer teilte die „Iskra" mit, dass der menschewistische Parteirat in seiner Sitzung vom 5. Februar den Vorschlag Bebels akzeptiert und seinerseits zu Schiedsrichtern Karl Kautsky und Clara Zetkin bestimmt habe.

Lenins Brief an Bebel ist deutsch geschrieben und wir geben ihn hier im Original wieder. Im Lenin-Institut befindet sich der von Lenins Hand geschriebene deutsche Entwurf dieses Briefes. Außer den zwei Absätzen, die hier abgedruckt werden, enthielt der Entwurf noch einen weiteren längeren Absatz, der von Lenin durchgestrichen und in den endgültigen Text seiner Antwort an Bebel nicht aufgenommen wurde. Das geht sowohl aus der Wiedergabe des Inhalts des Briefes durch Lenin selbst als auch aus einem Flugblatt der Redaktion der „Iskra" aus dem Jahre 1905 hervor. In dem Flugblatt hieß es: „Genosse Bebel übermittelte uns auf unsern Wunsch die Kopie der Antwort, die er vom Genossen Lenin auf den Vorschlag des Schiedsgerichts erhalten hat". Es folgt dann der deutsche Text (mit einer russischen Übersetzung) des Briefes, der mit dem nicht durchgestrichenen Teil des Leninschen Entwurfes übereinstimmt.

In Anbetracht des großen historischen Interesses, das dem durchgestrichenen Teil des Leninschen Briefes, in dem die Führer der deutschen Sozialdemokratie beschuldigt werden, den Opportunismus der russischen Menschewiki unterstützt zu haben, zukommt, bringen wir hier diesen durchgestrichenen Absatz ungekürzt zum Abdruck. Er lautet:

Am Schlusse gestatte ich mir noch, dem tiefen Bedauern Ausdruck zu geben, dass der Interventionsversuch der deutschen Sozialdemokratie jetzt wahrscheinlich zu spät kommt. Ich spreche hier von der Intervention überhaupt, nicht von besonderen und besonders schwierig zu verwirklichenden Formen der Intervention, z. B. dem obligatorischen Schiedsgericht. Vor einigen Monaten, als es vielleicht noch nicht zu spät war, als noch eine Spur von Hoffnung existierte, dass der III. Parteitag beide Fraktionen vereinigen und eine Partei wiederherstellen kann, – damals tat die deutsche Sozialdemokratie ihr Möglichstes, um diesen Weg zu sperren. Kautsky suchte in der ,Iskra' den Wert der formellen Organisation zu schwächen [bezieht sich auf Kautskys Ausführungen in Nr. 66 der „Iskra", siehe Anm. 150. Die Red.]. Die Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie verherrlichte die Desorganisation und die Treulosigkeit (Rosa Luxemburg in der ,Neuen Zeit) unter dem geistreichen und ,dialektischen' Vorwande, die Organisation sei nur ein Prozess, nur eine Tendenz. Die Erbitterung darüber war in unserer Partei sehr groß. Genosse Rjadowoi, sehr einflussreiches Mitglied der Majorität, bestand darauf, dass Kautsky meine Antwort bringen wird. Ich wettete mit ihm um das Gegenteil davon. Meine ,Abwehr' war kurz und sachlich geschrieben und beschränkte sich darauf, tatsächliche Unwahrheiten zu berichtigen und faktische Erzählungen dem Spotte über unsere Partei gegenüberzustellen. Kautsky wies meinen Artikel zurück mit der famosen Motivierung, Angriffe auf uns habe die ,Neue Zeit' nicht weil sie gegen uns gerichtet, sondern dessen ungeachtet gedruckt! Es war einfach ein Hohn! Die ,Neue Zeit' (und nicht sie allein) wollte also den deutschen Sozialdemokraten nur die Ansichten der Minorität bekannt machen. Die Erbitterung darüber war in unseren Reihen ungemein groß. Es war meines Erachtens natürlich, dass die deutschen Sozialdemokraten dem menschlich recht verständlichen Wunsche folgen, längst bekannte Persönlichkeiten als ausländische Vertreter der russischen Sozialdemokratie zu sehen, dass sie über russische Parteitage und ihre Beschlüsse, über russische Komitees und ihre Arbeit spotten. Aber nach alledem würde es mich nicht wundern, wenn Interventionsversuche seitens Vertreter der deutschen Sozialdemokratie auf Schwierigkeiten in unseren Reihen stießen.

Bitte um Entschuldigung für mein schlechtes Deutsch."

Den Brief Bebels hatte auch das Büro der Komitees der Mehrheit beantwortet (abgedruckt in Nr. 11 des „Wperjod" vom 10./23. März 1905). Das Büro unterstrich in seiner Antwort, dass der innerparteiliche Kampf in der russischen Sozialdemokratie „keinen persönlichen oder Gruppencharakter" trage, sondern ein „Zusammenstoß politischer Ideen" sei. Die Frage könne daher nur durch einen Parteitag und nicht durch ein Gericht entschieden werden. Auf dem III. Parteitag wurde Bebels Brief in der Diskussion besprochen, wobei die Delegierten den Standpunkt, wie er in dem Briefe des Büros der Komitees der Mehrheit zum Ausdruck kam, billigten.

Wie aus einem Briefe Lenins an das Internationale Sozialistische Büro vom 11./24. Juli 1905 hervorgeht, unternahm Bebel nochmals den Versuch, die Bolschewiki mit den Menschewiki auszusöhnen, wobei er sich auf die Autorität des Internationalen Sozialistischen Büros stützte. In seiner Antwort an das Internationale Büro entwickelte Lenin dieselben Gedankengänge, wie in dem durchgestrichenen Teil des Briefes an Bebel. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 7, Anm. 64]

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