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Massendemonstration vom 18. Juni/1. Juli 1917

Am 18. Juni/1. Juli 1917 fand in Petrograd eine grandiose Demonstration statt. Der Rätekongress, der die für den 10./23. Juni angekündigte bolschewistische Demonstration verboten und außerdem noch „auf drei Tage" alle Straßenkundgebungen überhaupt untersagt hatte, war unter dem Druck der Massen gezwungen, selbst für Sonntag, den 18. Juni/1. Juli, eine Demonstration festzusetzen, die zur Überraschung des kompromisslerischen Rätekongresses ein völliger Triumph der Bolschewiki wurde. Rund 400.000 Arbeiter und Soldaten demonstrierten an diesem Tage. 90 Prozent der Fahnen und Transparente trugen die Losungen des ZK der Bolschewiki: „Nieder mit den zehn kapitalistischen Ministern" und „Alle Macht den Räten". Die Losung „Vertrauen zur Provisorischen Regierung", die der menschewistisch-sozialrevolutionäre Rätekongress aufstellte, war nur auf drei Transparenten zu sehen, und zwar gehörten diese einem Kosakenregiment, der Gruppe „Jedinstwo" und der Petrograder Organisation des „Bund". Ähnliche Demonstrationen fanden auch in Moskau, im Moskauer Gouvernement und in anderen Städten statt. Der 18. Juni/1. Juli hatte gezeigt, dass die Massen geschlossen für die Revolution waren und für die Kompromissler nichts übrig hatten. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 20.2, Anm. 63]

Vom 20. April/3. Mai-21. April/4. Mai an, dem Augenblick, wo die schlecht organisierten und noch verhältnismäßig wenig zahlreichen Massen in Petrograd der Provisorischen Regierung den ersten Schlag versetzt hatten, wuchs die revolutionäre Erregung in den Massen, und ihre Mobilisierung auf Grund der Losungen der bolschewistischen Partei schritt von Tag zu Tag weiter. Der Eintritt der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre in die Provisorische Regierung stellte das untergrabene Vertrauen der Massen zu ihr durchaus nicht wieder her und diente nur zur Zerstörung des Vertrauens auch zu diesen Parteien selbst. Von den ersten Schritten der Koalitionsregierung an wurde es für die Massen offensichtlich, dass die „Ministersozialisten“ und ihre Parteien der Bourgeoisie dienen, dass sie von der Bourgeoisie und den „Kapitalistenministern“ nur zum Betrug an den Massen ausgenützt werden. Die Teilnahme der sozialistischen Minister an der Koalitionsregierung überzeugte die Arbeiter- und dann auch die Soldatenmassen (die in ihrer Mehrheit der Dorfarmut entstammten) von der Unfähigkeit der kleinbürgerlichen Parteien, irgendwelche Maßnahmen zur Befriedigung der dringendsten, brennendsten Nöte, der Forderung nach Brot, Land, Frieden und nach der Kontrolle über Produktion und Verteilung zu unternehmen. [...] Indessen unternahm die Koalitionsregierung im Vertrauen auf den Einfluss ihrer „sozialistischen“ Agentur in den Räten den Schritt, den die erste Provisorische Regierung zu unternehmen sich nicht entschlossen hatte: eben mit Hilfe der Ministersozialisten, mit ihren Händen wurde die Offensive einerseits an der Front und anderseits zugleich gegen die zu den Bolschewiki übergehenden Arbeiter- und Soldatenmassen organisiert. Vor der Vorbereitung der Offensive an der Front wurde die „Deklaration der Rechte der Soldaten“ herausgegeben, die in der revolutionären Presse die Bezeichnung „Deklaration der Rechtlosigkeit“ erhielt, denn sie war in Wirklichkeit ein Schritt zur Entziehung der von den Soldatenmassen tatsächlich eroberten Rechte und Freiheiten. Es wurde ein Probevorstoß gegen die Arbeitermassen unternommen: unter dem Vorwand, in dem von den Arbeiterorganisationen des Wiborger Stadtteils in Petrograd beschlagnahmten Landhause des gewesenen zaristischen Ministers Durnowo hätten sich Anarchisten eingenistet, verlangten die Regierung und der Petrograder Arbeiterrat die Räumung dieses Landhauses. Auch wurde die Frage der Exmittierung des Petrograder und des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei aus dem von ihnen beschlagnahmten Palais der Zarenmaitresse Kschessinskaja aufgeworfen. Zugleich wurden die ersten, gewissermaßen probeweisen Verhaftungen bolschewistischer Agitatoren vorgenommen. Das alles goss Öl ins Feuer. Die bolschewistische Losung „Alle Macht den Räten!“ wurde zur Losung der breiten Massen der Arbeiter und Soldaten Petrograds. So wurde eine Lage geschaffen, in der die Erfassung und Sammlung der revolutionären Kräfte in diesem politischen Zentrum des Landes, ihre Organisation und ihr Aufmarsch unter Führung der bolschewistischen Partei möglich und notwendig wurden, um der weiteren Sammlung und Mobilisierung der revolutionären Kräfte im ganzen Lande einen stärkeren Anstoß zu geben. Das Petrograder und das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei beschlossen, eine solche Demonstration der revolutionären Kräfte Petrograds für die Zeit des Rätekongresses am 10./23. Juni anzusetzen, um diese Demonstration jenem Verrat an der Revolution entgegenzusetzen, der in jeder Sitzung dieses Kongresses begangen wurde. Die Leiter des Rätekongresses erfuhren am 9./22. Juni von der angesetzten Demonstration und benützten gemäß den Interessen der Bourgeoisie und ihrer Regierung die Ansetzung dieser Demonstration dazu, um von den ersten schüchternen Schritten gegen das revolutionäre Proletariat und seine bolschewistische Avantgarde zur wirklichen Kriegserklärung an sie überzugehen. Sie beschuldigten die Bolschewiki, dass sie „dunklen Mächten“ dienen, dass sie der Konterrevolution die Tore öffnen, und droschen Phrasen über die Verteidigung der Revolution gegen die Anarchie, die die Konterrevolution nach sich ziehe. Unter diesen Vorwänden legten die Menschewiki Gegetschkori und Zereteli dem Kongress im Namen des Präsidiums den Antrag vor, auf drei Tage alle Demonstrationen zu verbieten. Der Kongress nahm diesen Antrag an. Das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei beschloss, sich diesem Beschlüsse zu fügen, und sagte die Demonstration nicht nur ab, sondern traf alle Maßnahmen, um die auf die Straßen strömenden Arbeiter zurückzuhalten. Nichtsdestoweniger wurde auf den 11./24. Juni zum Zwecke der Kriegserklärung an die Bolschewiki eine besondere Beratung des Kongresspräsidiums mit den Büros aller seiner Fraktionen, dem Exekutivkomitee des Petrograder Rates sowie dem Exekutivkomitee des Bauernbundes einberufen. Die abgesagte friedliche Demonstration wurde in dieser Sitzung als „Verschwörung“ zum Sturze der Provisorischen Regierung erklärt. Der Menschewik Dan forderte die Herausgabe eines „Gesetzes gegen die Bolschewiki“, Zereteli beantragte die Entwaffnung der Bolschewiki und des Petrograder Proletariats. Die Bolschewiki verließen diese konterrevolutionäre Sitzung. Dank der Opposition der Gruppe Martows und der weniger konterrevolutionär gestimmten Delegierten der Provinzräte gelang es Dan und Zereteli nicht, ihren Antrag ganz durchzusetzen. Aber eine Resolution, die die Bolschewiki verurteilte, wurde in dieser Sitzung dennoch angenommen und am 12./25. Juni vom Kongress bestätigt. Die menschewistisch-sozialrevolutionäre Mehrheit des Kongresses stellte sich auf die Seite der Bourgeoisie und ihrer Agenten, der Ministersozialisten, gegen die heranreifende proletarische Revolution. Ihr wurde der Krieg erklärt. Die führende Mehrheit des Kongresses vertraute zudem noch der Kraft ihrer Autorität, ihrem Einfluss in den Arbeiter- und Soldatenmassen und setzte in diesem Vertrauen zugleich mit dieser Kriegserklärung an die proletarische Revolution an Stelle der verbotenen bolschewistischen Demonstration auf den 18. Juni/1. Juli eine Demonstration im Namen des Kongresses an. Die Kongressmehrheit trug sich mit der Hoffnung, die von ihr festgesetzte Demonstration werde eine antibolschewistische werden. Es kam anders. Die Arbeiter- und Soldatenmassen Petrograds zeigten, dass sie die von der Bourgeoisie diktierten und vom Kongress beschlossene Herausforderung der proletarischen Avantgarde als gegen die Massen gerichtet betrachteten.

Die Demonstration vom 18. Juni/1. Juli wurde entgegen allen Erwartungen des Kongresses zu einem Triumph der Bolschewiki. An diesem Tage demonstrierten rund 400.000 Arbeiter und Soldaten. Nicht weniger als 90 Prozent aller Fahnen und Plakate trugen die Losungen des bolschewistischen Zentralkomitees: „Nieder mit den 10 Kapitalistenministern!“ und „Alle Macht den Räten!“. Die von der menschewistisch-sozialrevolutionären Kongressmehrheit herausgegebene Losung „Vertraut der Provisorischen Regierung!“ war nur auf drei Fahnen zu sehen, die einem Kosakenregiment, der Plechanow-Gruppe „Jedinstwo“ („Einheit“) und der Petrograder Organisation des „Bund“ (Allgemeiner jüdischer Arbeiterbund in Polen, Litauen und Russland, eine 1897 gegründete jüdische sozialdemokratische Organisation stark kleinbürgerlichen und nationalistischen Charakters, die mit einer Unterbrechung der SDAPR angehörte und heute noch in Polen weiterbesteht) gehörten. Sogar das von einer sozialrevolutionär-menschewistischen Redaktion geleitete Organ des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrates musste feststellen, dass die Demonstranten die sich selten zeigenden Fahnen mit dieser Losung des Vertrauens zornig herunterrissen.

Ähnlich wie in Petrograd fanden teilweise an demselben Tage, teilweise auch am 25. Juni/8. Juli, in Moskau, Kiew, Charkow, Jekaterinoslaw, Iwanowo-Wosnessensk, Sormowo, Kanawino (bei Nischni-Nowgorod) und in anderen Städten, in Betrieben usw. Demonstrationen statt. Das Proletariat trat in den Kampf gegen die Bourgeoisie und ihre Helfershelfer, die kleinbürgerlichen Parteien.

Gerade an diesem Tage, am 18. Juni/1. Juli, begann die von der Provisorischen Regierung und dem menschewistisch-sozialrevolutionären Block auf Verlangen der Ententemächte vorbereitete Offensive an der Front. Kerenski bereiste die Front und forderte die Truppen in Hunderten von Versammlungen zur Offensive auf. Am 18. Juni/1. Juli gingen die Armeen an der West- und Südwestfront zum Angriff über. Der Angriff brachte in den ersten zwei Tagen Anfangserfolge, einige tausend Österreicher wurden gefangen genommen, aber die technisch schwach vorbereitete und schlecht geleitete Offensive verwandelte sich bald in eine schwere Niederlage für die russische Armee. Die russischen Truppen waren nicht nur gezwungen, das eroberte Terrain wieder preiszugeben, sie mussten noch beträchtlich zurückgehen und verloren sehr viel an Toten und Gefangenen. Der Anfangserfolg löste bei der Bourgeoisie und den Kompromisslern große Begeisterung aus, die aber bald einer Kopflosigkeit Platz machte. Von diesem Zeitpunkt an begannen die Bolschewiki, die in den Petrograder Fabriken und Regimentern bereits die Führung hatten, stark zu wachsen, und gewannen außerordentlichen Einfluss auf die Armee. Die Front holte rasch das revolutionäre Petrograd ein. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 6, Anm. 52]

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