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Walter Nelz: «The Case of Leon Trotsky»

[Walter Nelz:] «The Case of Leon Trotsky».

[Nach Der einzige Weg, Zeitschrift für die Vierte Internationale, Nr. 1 (Dezember 1937), S. 25-27]

Vor kurzem erschien bei Martin Secker 6 Warburg, Ltd. London in englischer Sprache «Der Fall Leo Trotzkis:», der stenographische 617 Seiten umfassende Originalbericht der Voruntersuchung über die gegen Trotzki in den Moskauer Prozessen erhobenen Anklagen, gehalten vom 10.-17. April 1937 in Coyoacan, Mexiko, Avenida Londres 127. Anwesend waren die Mitglieder der vorbereitenden Untersuchungskommission: Dr. Dewey, Prof. der Philosophie, Columbia-Universität (Neu York), Carleton Beals, Autor und Dozent, (trat nach der elften Sitzung zurück), Suzanne La Follette, Autorin und frühere Herausgeberin von «The New Freeman», Otto Rühle, ehern. Reichstagsabgeordneter, Benjamin Stolberg, Autor und Journalist, John F. Finerty, Anwalt Saccos und Vanzettis und Tom Mooneys, handelt als Anwalt der Vorkommission, Albert Goldman, Anwalt Leo Trotzkis; die Zeugen Leo Trotzki und sein Sekretär Jan Frankel; der Kommissionsstenograph Albert Glotzer, Gerichtsstenograph in Chicago, sowie Presse- und Arbeitervertreter. An Trojanowski, Sowjetgesandter in USA und die «Kommunistischen Parteien» von USA und Mexiko gesandte Einladungen zur Teilnahme an der Voruntersuchung fanden keine Annahme.

Er wurden dreizehn Sitzungen durchgeführt, in deren Verlauf die Kommission alle entscheidenden, mit den gegen Trotzki in den Moskauer Prozessen behaupteten Anschuldigungen in Verbindung stehenden Fragen auf Grund der von Trotzki vorgelegten dokumentarischen Beweise gründlich überprüfte.

Die Untersuchung umfasste drei Gruppen von Aufgaben: a) Trotzkis Biographie, mit spezieller Berücksichtigung seiner Beziehungen zu den Angeklagten der Moskauer Prozesse, b) Tatsachenmaterial über die entscheidenden Anklagen gegen ihn, c) seine theoretischen und historischen Schriften in Bezug auf die Anklagen, Zeugenaussagen und Bekenntnisse der Moskauer Prozesse.

Man kann die Verhandlungen formell in drei Teile gliedern: 1. wurde Trotzki von seinem Anwalt Goldman – unterbrochen von Zwischenfragen der andern Kommissionsmitglieder – in systematischer Reihenfolge eingehend u.a. über folgende Gegenstände befragt: politische Biographie und persönliche Verhältnisse, Beziehungen zu den Bolschewiki und Lenin, Geschichte der Opposition, Beziehungen zu den Moskauer Angeklagten, Verbindungen mit der UdSSR, Frage Kopenhagen (Hotel Bristol usw.), Frage Romm, Aufenthalt in Frankreich, Norwegen, Pjatakows «Flug», Stellung zum Terrorismus, Politik und Verteidigung der SU, auswärtige Politik, Sabotage, Spanien, Geschichte der bolschewistischen Partei usw. usf. 2. wurde Trotzki von allen übrigen Kommissionsmitgliedern, sowie zum Schluss von anwesenden Vertretern mexikanischer Arbeiterorganisationen über alle besprochenen und noch gewünschten Fragen ins Kreuzverhör genommen. 3. Die Verhandlungen wurden geschlossen mit der großen zusammenfassenden Schlussrede Trotzkis. Alle zitierten Dokumente sind dem Untersuchungsbericht beigegeben. Der veröffentlichte Bericht enthält eine Liste von 34 Nummern teils einzelner, teils von Sammlungen vieler Dokumente.

Verglichen mit den offiziellen Berichten der Moskauer Prozesse, wird die Gründlichkeit, Vollständigkeit, Exaktheit und Konkretheit der mexikanischen Untersuchung auf den ersten Blick offenkundig. Die Kommissionsmitglieder sind keine Trotzkisten, politisch und weltanschaulich stehen sie zur 4. Internationale in Gegensatz. Sie ließen sich bei ihrer Arbeit einzig und allein vom Willen leiten, als neutrale Beobachter, die Wahrheit, nichts als die objektive Wahrheit über die Worte und Schriften, Beziehungen und Taten des wirklichen Leo Trotzki zu ergründen. Dass ihnen dies zweifellos sehr gut gelang, beweisen ihre vielverzweigten Fragen, die in die dunkelsten und geheimsten Winkel des Denkens ihrer Zeugen frei und unbekümmert hinein zünden, beweist der Bericht, der auch für den mit den Fragen des Trotzkismus Vertrauten mit seiner Fülle von interessanten geschichtlichen, politischen und persönlichen Bemerkungen spannend zu lesen ist. Aus der Masse des Materials können hier nur einige Kostproben verabreicht werden.

Trotzki charakterisiert den Stalin des Schneckentempo-Sozialismus: «Erlauben Sie mir zu sagen, dass ich 1927, als ich Präsident der Kommission für ein Kraftwerk in Dneprostroi war, in der Sitzung des Zentralkomitees auf der Notwendigkeit des Baus dieser Station bestand. Stalin antwortete und es ist veröffentlicht: Für uns bedeutet das Dnjeprostroiwerk zu bauen dasselbe wie für einen Bauern, anstelle einer Kuh ein Grammophon zu kaufen.» S. 245.

Oder er zeichnet internationale Perspektiven: «Meine Meinung ist, dass jetzt der Schlüssel zur Lage der Sowjetunion nicht in der Sowjetunion liegt sondern in Europa…» S. 277.

Finerty: «Wie Sie die Lage jetzt sehen, muss Hitler zuerst überwunden sein, bevor Stalin überwunden werden kann?»

Trotzki: «Ich hoffe es wird so sein. Alle Artikel, die ich hierüber schrieb, und ich wiederholte es in Dutzenden von Interviews und Artikeln, – wenn ein Krieg kommt, wird die erste Revolution in Japan sein, weil Japan wie das alte Zarenrussland ist, mit einer sehr brutal handelnden Staatsmacht, die sozialen Widersprüche Japans werden aufbrechen. Die erste Revolution wird in Japan sein. Die zweite, hoffe ich, in Deutschland, weil Deutschland, hermetisch abgeschlossen, während des Krieges unvermeidlich explodieren wird, wie während des imperialistischen Krieges mit den Hohenzollern, weil jetzt alle Widersprüche, sozial und wirtschaftlich, in schärferer Form in Deutschland bestehen. Zwei zu Tode verurteilte Regimes, Japan im Osten und Deutschland in Europa.» S. 279.

Eine Betrachtung über Machtgier: ««Trotzki will die Macht. Er ist ungeduldig. Er will alle töten und die Macht nehmen.» Das ist absolut dumm. Ich bin nicht hungrig nach persönlicher Macht. Meine literarische Arbeit befriedigt mich mehr. Macht ist eine Bürde, doch sie ist nötig und ein unvermeidliches Übel. Wenn Ihre Ideen siegreich sind, müssen Sie es annehmen. Doch die Mechanik der Macht ist eine elende Geschichte.» S. 278.

Eine interessante Stelle über die Haltung in einem Kriege Deutschlands usw. gegen Frankreich-Russland usw. Trotzki sagt: «In Frankreich würde ich in Opposition zur Regierung bleiben und diese Opposition systematisch entwickeln. In Deutschland würde ich alles tun, was ich könnte, um die Kriegsmaschinerie zu sabotieren. Das sind zwei verschiedene Dinge. In Deutschland und Japan würde ich militärische Methoden anwenden, soweit ich dazu imstande wäre, um der Kriegsmaschinerie zu schaden, sie zu desorganisieren. In Frankreich handelt es sich um eine politische Opposition gegen die Bourgeoisie und die Vorbereitung der proletarischen Revolution. Beides sind revolutionäre Methoden. Doch in Deutschland und Japan habe ich als mein unmittelbares Ziel die Desorganisation der ganzen Maschine. In Frankreich habe ich das Ziel der proletarischen Revolution.» S. 290.

Über stalinistische Korruptionsmethoden: «Ich war erschrocken, als sie Ende 1924 die Führer der englischen Arbeiterorganisationen zu bezahlen begannen, ich will hier keine Namen geben. Ich werde die Namen mitteilen. (In geschlossener Sitzung.) Sie gaben den Frauen der Führer – sie wagten nicht Geld zu geben – sie gaben den Frauen, die Russland besuchten Juwelen, um ihre Sympathie zu gewinnen. Der englisch-irische Schriftsteller O’Flaherty beschreibt das in seinem Buch sehr zynisch. Er nahm selbst tausend Rubel. Er sagt: «In jedem Land ist es Sitte, einige Schriftsteller zu kaufen, doch nirgends wird es mit solchem Zynismus getan, wie in der Sowjetunion.» Und das war 1925 oder 1926.» S. 320.

S. 369: «Entschuldigen Sie. Ich rede nicht der Strenge das Wort, doch ich bin bereit, alle Verantwortung für alle terroristischen Taten, die das russische Volk gegen seine Unterdrücker beging, zu übernehmen.»

S. 370: «Ich hoffe, dass nach ein oder zwei Siegen in andern Ländern die Revolutionen absolut unblutige Revolutionen sein werden.»

Auf den Seiten 402/403 teilt Trotzki ein Zitat aus einem von Wyschinski herausgegebenen Buch mit: Das Buch heißt: «Strafuntersuchung» und erschien 1936. Darin steht: «Falsche Zeugen, die ihre Aussage auswendig lernen, können sehr überzeugend wirken.» Es bestätigt die Notwendigkeit, objektive Beweise für die Aussagen zu fordern.

Trotzki beschreibt den Weltsozialismus für den wir kämpfen: «Die Sowjetunion gibt uns ein Beispiel, dass die anarchische Wirtschaft der freien Konkurrenz in Planwirtschaft umgewandelt werden kann. Mit großem Erfolg trotz der Bürokratie. Wenn wir uns die gleiche Möglichkeit in der Weltarena vorstellen – und warum nicht? – dann werden die Wissenschaftler, die Techniker und die Führer der Gewerkschaften auf einer Konferenz, auf einer Weltkonferenz, feststellen, was wir haben, was wir brauchen, die Produktivkräfte, die natürlichen Quellen und die schöpferischen Kräfte der Menschheit. Dann werden die Menschen vorsichtig beginnen, nicht durch wirtschaftliche Katastrophen, sondern mehr und mehr planmäßig die Anstrengungen der verschiedenen Nationen zu regeln; durch einen Plan auf wissenschaftlicher Basis, nicht durch Krieg, der die Waren in fremdes Land einführen muss. Dies ist absolut möglich, absolut möglich». S. 435.

Die Schlussrede wird in nächster Zeit ihrem Inhalt nach in Trotzkis neustem Buch «Stalins Verbrechen», das gleichzeitig auch in deutscher Sprache erscheint, veröffentlicht.

Der Zwischenfall mit dem Kommissionsmitglied Beals mag den meisten Lesern bekannt sein. Am Ende der elften Sitzung behauptete Beals, von Borodin erfahren zu haben, dass in der Sowjetunion bereits 1919 oder 20 die ersten Auseinandersetzungen über Sozialismus in einem Lande stattfanden, ferner, dass Trotzki Borodin nach Mexiko sandte, um dort die erste Kommunistische Partei zu gründen und die Revolution zu schüren. Er behauptete dies, nachdem Trotzki eben erklärt hatte. Borodin persönlich nicht zu kennen.

Darauf Trotzki: «Darf ich die Quelle dieser sensationellen Mitteilung wissen? Ist sie veröffentlicht – nein?»

Beals: «Sie ist nicht veröffentlicht.»

Trotzki: «Ich kann dem Kommissionsmitglied nur den Rat geben, seinem Informator zu sagen, er sei ein Lügner.»

Trotzki dementierte in einer öffentlichen Erklärung kategorisch die Behauptungen Beals, die geeignet waren, seinen Aufenthalt in Mexiko zu gefährden und verlangte von Beals die Quellen seiner Information. Daraufhin trat Beals mit einer Bemerkung über mangelnde Ernsthaftigkeit der Untersuchung aus der Kommission zurück! Es ist zweifellos, dass er als Werkzeug der GPU handelte, um durch seine von der Kommission einstimmig verurteilte Provokation neue Schwierigkeiten für Trotzki heraufzubeschwören.

Die mexikanische Untersuchungskommission berichtete das Resultat ihrer Bemühungen schriftlich an die große New Yorker Kommission mit der Empfehlung: «Ihre Unterkommission übergibt Ihnen den wörtlichen Bericht ihrer Verhandlungen zusammen mit den Beweisdokumenten. Dieser Bericht überzeugt uns, dass Herr Trotzki einen Fall vorlegte, der weitere Untersuchung reichlich rechtfertigt. Deshalb empfehlen wir, dass die Arbeit dieser Kommission zu Ende geführt werde.»

Vor einiger Zeit sind alle Kommissionsarbeiten positiv abgeschlossen worden. Als Bericht über diesen Abschluss und das Urteil der Kommission befindet sich ein zweiter Band des «Fall Leo Trotzki» in Vorbereitung Die Arbeit der neutralen amerikanischen Untersuchungskommission zerstört von Grund auf die Moskauer Lügenkonstruktionen und befestigt auf der ganzen Linie die Wahrheit. In Zukunft wird niemand mehr über den «Fall Leo Trotzki» ernsthaft urteilen können, ohne die amerikanischen Untersuchungsberichte zu kennen.

W. O.

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