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Aprilkrise 1917

Die Aprilkrise vom 20.–22. April/3.-5. Mai 1917 wurde verursacht durch die Note des Außenministers Miljukow an die alliierten Regierungen vom 18. April/1. Mai. Diese Note überzeugte die Arbeitermassen, dass die Provisorische Regierung, die in Worten die Losung des demokratischen Friedens ohne Annexionen und Kontributionen akzeptierte, in Wirklichkeit den Alliierten ihre Treue zu den von Nikolaus II. abgeschlossenen annexionistischen Verträgen bestätigt und sich verpflichtet hat, den Krieg bis zum entscheidenden Sieg zu führen. Die Folge war eine Reihe von Straßendemonstrationen der Arbeiter und Soldaten gegen Miljukow und die Provisorische Regierung. Die Bourgeoisie antwortete mit patriotischen Gegendemonstrationen, die zu Zusammenstößen auf dem Newski-Prospekt führten. Vereinzelt wurde auf Arbeiterdemonstranten geschossen. Die Bewegung fand ein Echo in Moskau, wo ein Teil der Arbeiter und das 56. Reserveregiment vor dem Sowjet und dem Moskauer Komitee der Bolschewiki demonstrierten. Die Empörung der Massen zwang Miljukow zurückzutreten, er wurde durch den bisherigen Finanzminister Tereschtschenko ersetzt Die Regierungskrise zog sich bis zum 5. Mai hin, wo die erste Koalitionsregierung unter Teilnahme der Sozialisten gebildet wurde. – Die Resolutionen des Zentralkomitees der Bolschewiki vom 21. April/4. Mai und 22. April/5. Mai 1917 wurden von Lenin verfasst. Eine vorhergegangene Resolution vom 3. Mai (20. April) ist aller Wahrscheinlichkeit nach von einem andern Mitglied des Zentralkomitees geschrieben worden. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 20.1, Anm. 124]

Am 18. April/1. Mai sandte der Außenminister Miljukow telegraphisch den Verbündeten eine Note, in welcher er im Namen der Provisorischen Regierung erklärte, es bestehe „im ganzen Volke das Bestreben, den Weltkrieg zu einem entscheidenden Siege zu führen“, und die Regierung verfolge die Absicht, „die gegenüber unseren Verbündeten eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten“. Durch diese Note wurde praktisch der Aufruf der Provisorischen Regierung vom 27. März/9. April an die Bürger Russlands entkräftet, in welchem, wenn auch lügnerisch und heuchlerisch immerhin behauptet wurde, dass der Krieg auf der Seite Russlands nur ein Abwehrkrieg sei, dass Russland auf die Politik der gewaltsamen Eroberung fremder Gebiete verzichte. Die Massen fühlten sich betrogen und kamen in Bewegung. Als am Morgen des 20. April/3. Mai die Note in den Zeitungen veröffentlicht wurde, erschien das Finnländische Regiment in voller Waffenausrüstung auf der Straße und marschierte in der Richtung zum Marienpalais, wo die Provisorische Regierung ihren Sitz hatte. Dem Finnländischen Regiment folgten das Moskauer, das Pawlowsker, das 180, Reserveregiment, das Keksholmer Regiment und die Matrosen des II. Baltischen Kaders, im ganzen 25.000-30.000 Mann. Die Bewegung trug einen spontanen Charakter, denn keine einzige politische Organisation hatte dabei die Initiative. Die demonstrierenden Regimenter traten nicht so sehr gegen die Provisorische Regierung als vielmehr persönlich gegen Miljukow und seine Eroberungspolitik auf. Kurze Zeit darauf gelang es den kompromisslerischen menschewistischen und sozialrevolutionären Führern des Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates, die Soldaten zu veranlassen, in die Kasernen zurückzukehren. Als am Abend desselben Tages die Provisorische Regierung und die Vertreter des Exekutivkomitees des Petrograder Rates tagten, bewegten sich von der einen Seite die Kolonnen der Arbeiter und von der anderen Seite, als Gegengewicht gegen sie, eine Demonstration der Bourgeoisie in das Stadtinnere. Die bürgerliche Demonstration war von den Kadetten veranstaltet worden, um Miljukow und die Provisorische Regierung zu unterstützen. In der gemeinsamen Sitzung schreckte die Provisorische Regierung die Vertreter des Exekutivkomitees, die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, mit den Schwierigkeiten, die das Land durchmachte, und drohte mit ihrem Rücktritt, um auf diese Weise die weitgehendsten Zugeständnisse zu erreichen. Nachdem die Regierung den Vertretern des Exekutivkomitees die Zurücknahme der Note Miljukows abgeschlagen hatte, erklärten sich diese mit der Veröffentlichung einer „Erläuterung“ zu ihr einverstanden. Diese Mitteilung der Provisorischen Regierung wurde am 5./18. Mai veröffentlicht. Es hieß in ihr: „Es ist selbstverständlich, dass diese Note, wo sie vom entscheidenden Sieg über die Feinde spricht, die Erreichung jener Aufgaben im Auge hat, die in der Deklaration vom 27. März gestellt wurden und in folgenden Worten zum Ausdruck gekommen sind: ,Die Provisorische Regierung betrachtet es als ihr Recht und ihre Pflicht, heute schon zu erklären, dass das Ziel des freien Russlands nicht die Herrschaft über andere Völker ist, nicht der Raub ihres nationalen Besitzes, nicht die gewaltsame Eroberung fremder Gebiete, sondern die Festsetzung eines dauerhaften Friedens auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Das russische Volk sucht nicht eine Verstärkung seiner äußeren Machtstellung auf Kosten fremder Völker, es setzt sich nicht zum Ziel die Versklavung und die Demütigung von irgend jemand. Im Namen der höchsten Prinzipien der Gerechtigkeit hat es die Ketten gelöst, die auf dem polnischen Volke lasteten. Aber das russische Volk wird nicht zulassen, dass seine Heimat aus dem großen Kampfe gedemütigt und in seinen Lebenskräften gebrochen hervorgeht.'“

Am folgenden Tage begannen vom frühen Morgen an die Arbeiter aus den Vorstädten, besonders von der Wiborger Seite, in geschlossenen Zügen nach dem Stadtinnern zu ziehen. Sie führten bolschewistische Losungen in den Zügen: „Alle Macht dem Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat!“, „Es lebe die III. Internationale!“ Im Stadtinnern stellten sich ihnen die Georgskavaliere, bewaffnete Offiziere, Junker, Studenten entgegen mit den Losungen: „Vertrauen zur Provisorischen Regierung“, „Nieder mit Lenin“, „Hoch Miljukow“. Es kam zu Zusammenstößen zwischen den demonstrierenden Arbeitern und den Konterrevolutionären. Bei den Schießereien gab es Opfer. Die Initiative zur Gegendemonstration gegen die Arbeiter ging von den Kadetten aus. Auf dem Platz vor dem Winterpalais suchte General Kornilow verlässliche Militärabteilungen zu sammeln, um mit den Arbeitern abzurechnen. Aber sein Versuch gelang nicht, denn das Exekutivkomitee der Räte versandte an alle Truppenteile die telefonische Mitteilung, dass sie ohne Zustimmung des Rates nicht ausrücken sollen. An demselben Tage -- am 21. April/4. Mai – fasste das Exekutivkomitee des Petrograder Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates nach einem Referat des Menschewiks Zereteli mit 34 gegen 19 Stimmen einen Beschluss, in dem der Rat der Provisorischen Regierung das Vertrauen aussprach und damit die Frage als erledigt betrachtete. Das auf den Abend desselben Tages einberufene Plenum des Rates stimmte der Haltung der menschewistisch-sozialrevolutionären Mehrheit des Exekutivkomitees zu und lehnte den Antrag der bolschewistischen Fraktion auf Bildung einer sozialistischen Regierung aus den sozialistischen Parteien ab. Ferner schlug das Plenum auf Grund eines einstimmigen Beschlusses aller sozialistischen Parteien, allen Arbeitern und Soldaten vor, im Verlaufe der nächsten zwei Tage von jedweden Straßendemonstrationen Abstand zu nehmen. Am 22. April/5. Mai war es auf den Straßen ruhig. Aber diese Ruhe war nur äußerlich. Die Ereignisse der beiden vorausgegangenen Tage waren der Beginn einer aus den Tiefen der Arbeitermassen kommenden Bewegung gegen die bürgerliche Provisorische Regierung, für die Alleinherrschaft der Räte. Es kam darin die Krise der Doppelherrschaft zum Ausdruck. Es bestätigten sich die Worte Lenins, dass für die Arbeiterklasse der einzige Ausweg aus der Doppelherrschaft die Sowjetmacht sei. Aber hinter der bolschewistischen Partei stand in den Tagen des 20. und 21. April/3. und 4. Mai noch nicht die Mehrheit der Arbeitermasse. Darum beobachtete das ZK der Partei unter Führung Lenins in diesen Tagen die größte Vorsicht. Ein Teil der führenden Genossen des Petrograder Parteikomitees gab in diesen Tagen die Losung aus: „Nieder mit der Provisorischen Regierung“. Diese Losung war in der gegebenen Lage eine vorzeitige Aufforderung zum sofortigen Sturz dieser Regierung. Gerade einen solchen sofortigen Sturz hatte auch die Gruppe der „Linken“ im Petrograder Komitee im Sinne, weshalb sie damals auch beabsichtigte, die Provisorische Regierung zu verhaften. Das ZK der Partei durchkreuzte diese, angesichts der damaligen Situation abenteuerliche Politik aufs Entschiedenste. [...] Das ZK erklärte in seiner Resolution vom 22. April/5. Mai, die von Lenin verfasst war, die Losung „Nieder mit der Provisorischen Regierung“ unter den gegebenen Verhältnissen für unrichtig. „Die Losung ,Nieder mit der Provisorischen Regierung' ist momentan deshalb unrichtig, weil eine solche Losung ohne eine feste (das heißt bewusste und organisierte) Mehrheit des Volkes auf Seiten des revolutionären Proletariats entweder eine Phrase ist oder objektiv auf Versuche abenteuerlicher Art hinausläuft. Wir werden erst dann für den Übergang der Macht in die Hände der Proletarier und Halbproletarier sein, wenn die Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte sich zu unserer Politik bekennen werden und diese Macht werden übernehmen wollen. Die Organisation unserer Partei, der Zusammenschluss der proletarischen Kräfte hat sich in den Tagen der Krise als offenkundig unzureichend erwiesen. Die Losungen der Stunde sind: 1. Klarlegung der proletarischen Linie und des proletarischen Wegs zur Beendigung des Krieges; 2. Kritik an der kleinbürgerlichen Politik des Vertrauens zu der Kapitalistenregierung und des Paktierens mit ihr; 3. Propaganda und Agitation von Gruppe zu Gruppe in jedem Regiment, in jedem Betrieb, besonders unter der rückständigsten Masse, den Dienstboten, ungelernten Arbeitern usw., denn besonders auf diese versuchte die Bourgeoisie sich in den Tagen der Krise zu stützen; 4. Organisation, Organisation und noch einmal Organisation des Proletariats: in jedem Betrieb, in jedem Stadtteil, in jedem Häuserblock“.

Während der Ereignisse selbst hatte das ZK am 21. April/4. Mai eine ebenfalls von Lenin geschriebene Resolution beschlossen, in der es hieß: „Die Agitatoren und Redner der Partei haben die niederträchtige Lüge der kapitalistischen und kapitalistenfreundlichen Zeitungen, als drohten wir mit dem Bürgerkrieg, zu entlarven. Das ist eine niederträchtige Lüge, denn im gegenwärtigen Augenblick, solange die Kapitalisten und ihre Regierung es nicht wagen, und dazu auch nicht in der Lage sind, Gewalt gegen die Massen anzuwenden, solange die Soldaten- und Arbeitermasse ihren Willen frei bekundet, alle Behörden frei wählt und absetzt – in einem solchen Augenblick ist jeder Gedanke an den Bürgerkrieg naiv, sinnlos, wahnwitzig, in einem solchen Augenblick ist die Unterordnung unter den Willen der Mehrheit der Bevölkerung und die freie Kritik dieses Willens durch die unzufriedene Minderheit notwendig; wenn es zu Gewalttaten kommt, so fällt die Verantwortung auf die Provisorische Regierung und ihre Anhänger.“ Über die Politik des Vertrauens zur Provisorischen Regierung hieß es in der Resolution: „Die Politik der jetzigen Mehrheit der Führer des Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates, der Parteien der Narodniki und Menschewiki, halten wir für grundfalsch, denn das Vertrauen zur Provisorischen Regierung, die Versuche, sich mit ihr auszusöhnen, das Feilschen um Verbesserungen usw., alles das würde faktisch nur eine Vermehrung wertloser Papierfetzen bedeuten, eine bloße Verschleppung, überdies aber bedeutet diese Politik die Gefahr, dass der Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat in Widerspruch gerät zu dem Willen der Mehrheit der revolutionären Soldaten an der Front und in Petrograd und der Mehrheit der Arbeiter.“ Die Resolution schloss mit den Worten: „Wir fordern die Arbeiter und Soldaten, die anerkennen, dass der Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat seine Politik ändern und die Politik des Vertrauens und des Paktierens mit der Kapitalistenregierung aufgeben muss, auf, ihre Delegierten zum Arbeiter-und Soldatendeputiertenrat neu zu wählen, indem sie nur solche Leute entsenden, die standhaft eine ganz bestimmte Meinung, im Einklang mit den wirklichen Willen der Mehrheit, vertreten werden“. Diese Aufforderung zur Neuwahl der Deputierten in den Arbeiter- und Soldatenrat wurde in der Resolution vom 5. Mai (22. April) wiederholt. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 6, Anm. 38]

Bekanntlich fand am 20. April eine bewaffnete Protestdemonstration der Arbeiter von Petrograd gegen die Note Miljukows vom 18. April statt, in der dieser im Namen der Provisorischen Regierung die Treue der Regierung Lwow zu den zaristischen Verträgen mit den Verbündeten bestätigte und den arbeitenden Massen trotzte. Die Demonstration vom 20. April war das erste große Ereignis im Zuge der Verschärfung des Klassenkampfes. Sie brach die erste Lücke in die kurzlebige Idylle des Klassenfriedens, die für eine bestimmte Zeit durch die Februarrevolution geschaffen wurde. [Trotzki, Sotschinenija 3.2]

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