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Diskussion über kollegiales und individuelles Verwaltungsprinzip

Die Diskussion über die Frage des kollegialen und individuellen Verwaltungsprinzips entstand Ende 1919, als die Frage der Wiederherstellung der Industrie und des Transportwesens auf der Tagesordnung stand. Die von Lenin im Zusammenhang damit aufgeworfene Frage des Übergangs zu einer individuellen Leitung der wirtschaftlichen Unternehmungen dort, wo die bestehenden Kollegien mit den wirtschaftlichen und administrativen Aufgaben nicht fertig wurden, rief den Widerspruch der verantwortlichen Funktionäre der Gewerkschaftsbewegung und der Wirtschaftsorgane hervor. Als erster trat Lenin gegen die kommunistische Fraktion des Allrussischen Zentralrates der Gewerkschaften auf, die das individuelle Verwaltungsprinzip fast als eine Verletzung der Grundsätze der proletarischen Demokratie und als einen Ausschluss der Arbeiter von der Leitung der Produktion betrachteten. Die Gewerkschafter waren der Auffassung, dass dadurch den Arbeitern die Möglichkeit genommen werde, sich administrative Kenntnisse in der Praxis anzueignen. Bereits in der Sitzung der kommunistischen Fraktion des Allrussischen Zentralrates der Gewerkschaften vom 12. Januar 1920 erklärte Lenin: „Das kollegiale Prinzip wird zum Geschwätz von Leuten, die in den Versammlungen sitzen und davon reden, dass das individuelle Verwaltungsprinzip nicht die einzige und brauchbare Methode der Organisation sei. Natürlich müssen die Arbeiter das Verwalten erlernen … Natürlich kann man auch im Kollegium lernen. Wenn man es nicht anders kann, dann soll man im Kollegium bleiben. Um zu lernen, braucht man aber kein Kollegium: man nehme Stellvertreter. Wir werden das kollegiale Prinzip mit dem individuellen Prinzip verknüpfen, damit die Arbeiter selbst verwalten lernen … Wir werden bald das kollegiale, bald das individuelle Prinzip anwenden. Das kollegiale Prinzip werden wir für diejenigen behalten, die rückständiger, schwächer, unentwickelter sind. Mögen sie nur reden, sie werden es schließlich satt bekommen und – aufhören.“ Lenin fand nicht die Unterstützung der Fraktion des Allrussischen Zentralrats der Gewerkschaften und setzte seinen Kampf gegen die Anhänger des Kollegialprinzips fort. Auf dem 3. Allrussischen Kongress der Volkswirtschaftsräte am 27. Januar 1920 verteidigte Lenin die Notwendigkeit des Übergangs vom kollegialen zum individuellen Verwaltungsprinzip, das „die beste Verwertung der menschlichen Fähigkeiten und eine wirkliche, keine scheinbare Kontrolle der Arbeit gewährleistet“. Referent über die Frage der Verwaltung der wirtschaftlichen Unternehmungen auf dem Kongress war W. Miljutin, ein Anhänger des Kollegialsystems. Miljutin war der Auffassung, dass dieses System den Gewerkschaften und den Arbeitermassen die Teilnahme an der Leitung des wirtschaftlichen Lebens garantiere. Lenin wandte sich gegen diese Auffassung und erklärte, dass „das Kollegialsystem im besten Falle zu einer ungeheuren Vergeudung der Kräfte führt und nicht der von der zentralisierten Großindustrie geforderten Schnelligkeit und Übersichtlichkeit der Arbeit entspricht. Die Argumente Lenins überzeugten jedoch nicht die Mehrheit des Kongresses, die eine Resolution annahm, in der die kollegiale Verwaltungsform als die Regel anerkannt wurde. Der Kongress gab allerdings zu, dass „das Minus und Plus der kollegialen Verwaltungsform in der Praxis erprobt und mit dem individuellen Verwaltungsprinzip verglichen werden müsse“.

Auf diesem Kongress traten als Verteidiger des Kollegialprinzips auf: W. Ossinski, T. Sapronow, W. Maximowski, W. Smirnow, A. Rykow, M. Tomski, A. Bubnow.

Die Diskussion über diese Frage zog die breitesten Kreise. Auf der Allukrainischen Parteikonferenz waren die Delegierten zur Hälfte für, zur Hälfte gegen das kollegiale Prinzip. Deshalb konnte die KP der Ukraine in dieser wichtigen Frage der Wirtschaftspolitik keinen bestimmten und einheitlichen Standpunkt vertreten.

In Moskau stützten sich die Anhänger des Kollegialprinzips auf das Moskauer Parteikomitee und die kommunistische Fraktion im Präsidium des Allrussischen Zentralrats der Gewerkschaften, die die Thesen M. Tomskis „Über die Aufgaben der Gewerkschaften“ angenommen hatte. Außer in den Thesen M. Tomskis und des Moskauer Gouvernementskomitees der KPR wurde von W. Ossinski, T. Sapronow und M. Maximow in ihren Thesen „Über das kollegiale und individuelle Verwaltungsprinzip“ versucht, eine Begründung des Standpunkts der Anhänger des Kollegialprinzips zu geben. Diese drei Dokumente der Gegner des individuellen Verwaltungsprinzips wurden auf dem 9. Parteitag der KPR von Lenin einer scharfen Kritik unterzogen.

Vor dem 9. Parteitag der KPR vertrat Lenin das individuelle Verwaltungsprinzip auf dem 3. Allrussischen Verbandstag der Schifffahrtsarbeiter und insbesondere in der Sitzung der kommunistischen Fraktion des Allrussischen Zentralrats der Gewerkschaften vom 15. März 1920, wo die Meinungsverschiedenheiten ihren Höhepunkt erreichten. In beiden Fällen gelang es Lenin nicht, den von ihm vertretenen Standpunkt durchzusetzen.

Diese Diskussion wurde auf dem 9. Parteitag der KPR beendet, auf dem die Anhänger des kollegialen Verwaltungsprinzips in der Minderheit waren. Nach der Annahme der Thesen des ZK der KPR durch den Parteitag machte die Opposition noch einen letzten Versuch, wenigstens eine „beschränkte Kollegialität“ durchzusetzen. Rykow und Tomski brachten zu diesem Zweck Ergänzungsanträge ein, die aber abgelehnt wurden. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 25]

Die Frage Kollegialverwaltung oder alleinige Befehlsgewalt machte unmittelbar vor dem IX. Parteitag folgende Entwicklung durch: die Meinungsverschiedenheiten in dieser Frage begannen in der Partei Ende 1919 im Zusammenhang mit der Frage der Militarisierung der Arbeit und mit der Frage der Arbeitspflicht. Das Prinzip der alleinigen Befehlsgewalt stieß damals auf den Widerstand der Kommunistischen Fraktion des Allrussischen Zentralrates der Gewerkschaften, in der Lenin in seiner Rede vom 12. Januar 1920 das Prinzip der alleinigen Befehlsgewalt verteidigte. Im Januar 1920 sprach Lenin auch auf dem III. Kongress der Volkswirtschaftsräte zu dieser Frage, doch wurde auch dort ein Beschluss gefasst, wonach die Kollegialverwaltung als die Grundform der Verwaltung anerkannt wurde, obzwar der Kongress gleichzeitig empfahl, die Vorzüge der Kollegialverwaltung und der alleinigen Befehlsgewalt in der Praxis zu prüfen. In ihrem weiteren Verlauf erfasste die Diskussion weite Kreise von Parteifunktionären, Wirtschaftlern und Gewerkschaftern. So teilte sich die Allukrainische Parteikonferenz [...] in zwei gleich große Lager. Das Moskauer Parteikomitee war ebenfalls für die Kollegialverwaltung. Die Kommunistische Fraktion des Allrussischen Zentralrats der Gewerkschaften stimmte für die Thesen Tomskis gegen die alleinige Befehlsgewalt. Das ZK der Partei dagegen stand, wie dies aus dem Bericht Lenins auf dem IX. Parteitag klar hervorgeht, auf dem Leninschen Standpunkt, der auf diesem Parteitag auch den Sieg davontrug. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 8]

Schon im Jahre 1918 entfalteten die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre eine rege Agitationstätigkeit gegen das am 26. März 1918 erlassene Dekret des Rates der Volkskommissare über „die Zentralisierung der Verwaltung, über die Bewachung der Eisenbahnen und die Hebung ihrer Leistungsfähigkeit“, das die alleinige Befehlsgewalt auf den Eisenbahnen einführte. Auch zur Zeit des IX. Parteitages führten sie eine Kampagne gegen das Prinzip der alleinigen Befehlsgewalt und solidarisierten sich in dieser Frage mit der Opposition innerhalb der Kommunistischen Partei. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 8]

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