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Kontroversen zum Agrarprogramm

Der Abschnitt des Programms, der sich mit der Agrarfrage beschäftigt, lautet in der vom 2. Parteitag beschlossenen Form:

Um die Überreste der Fronherrschaft zu beseitigen, die auf den Bauern unmittelbar schwer lasten, und um die freie Entfaltung des Klassenkampfes auf dem Lande zu fördern, fordert die Partei vor allem:

1. Aufhebung der Ablösungszahlungen und des Leihzinses wie auch aller Schuldverpflichtungen, die heute auf die Bauernschaft als steuerpflichtigen Stand fallen.

2. Aufhebung aller Gesetze, die den Bauern in der Verfügung über sein Land beschränken.

3. Rückzahlung aller Geldsummen an die Bauern, die ihnen in Form von Ablösungszahlungen und Leihzins abgenommen worden sind. Zu diesem Zweck – Beschlagnahme des Kloster- und Kirchenvermögens wie auch der Apanage-, Staats- und Kronländereien, ferner besondere Besteuerung der Ländereien der adeligen Großgrundbesitzer, die solche Ablösungskredite ausgenützt haben; Überweisung der auf diese Weise erhaltenen Summen an einen besonderen Fonds für die kulturellen und sozialen Nöte der Dorfgemeinden.

4. Gründung von Bauernkomitees, a) um den Dorfgemeinschaften die Bodenstücke wiederzugeben (durch Enteignung oder, wenn die Ländereien von Hand zu Hand gegangen sind, durch Ablösung durch den Staat auf Kosten der adeligen Großgrundbesitzer), die bei der Aufhebung der Leibeigenschaft vom Bauernland abgetrennt worden sind und den Gutsbesitzern als Werkzeug zur Knechtung der Bauern dienen; b) um den Bauern im Kaukasus die Ländereien als Eigentum wiederzugeben, die sie als zeitweilig Verpflichtete, als Pächter usw. zur Nutzung hatten; c) um die Überreste der Leibeigenschaft zu beseitigen, die im Ural, im Altai-Gebiet, in Westrussland und in verschiedenen anderen Teilen des Landes erhalten sind.

5. Das Recht der Gerichte, den übermäßig hohen Pachtzins herabzusetzen und Verträge für ungültig zu erklären, die einen versklavenden Charakter tragen.“

Aus den vom Lenin-Institut veröffentlichten Materialien über die Ausarbeitung des Programms ist zu ersehen, dass sich Lenin gegen jede Zulassung irgendeiner Ablösung der abgetrennten Bodenstücke entschieden verwahrte. In der Nummer 2 des „Leninski Sbornik“ ist die folgende Korrektur zum agrarischen Teil des Programms von seiner Hand angeführt: „Zum 4. Punkte unseres Agrarprogramms schlage ich die folgenden Änderungen vor: anstatt der Worte ,Bildung von Bauernkomitees a) zur Rückgabe jener Grundstücke (auf dem Wege der Enteignung oder, falls der Boden in andere Hände übergegangen ist, der Ablösung o. ä. ) an die Dorfgemeinschaft' usw., zu sagen:

,Bildung von Bauernkomitees a) zur Rückgabe (auf dem Wege der Enteignung) an die Dorfgemeinschaften jener Grundstücke, welche' … usw., usw., d. h. die unterstrichenen Worte wegzulassen“.

Und Lenin begründet seinen Vorschlag: „1. Im Agrarprogramm stellen wir als „Maximum“ unsere ,Sozialrevolutionären Forderungen' (siehe meinen Kommentar) auf. Die Zulassung der Ablösung widerspricht dem sozialrevolutionären Charakter der ganzen Forderung. 2. Die Ablösung besitzt sowohl in der geschichtlichen Überlieferung (die Ablösung von 1861) als auch nach ihrem Inhalt (siehe das berühmte „Ablösung ist dasselbe wie Ankauf“ den besonderen Beigeschmack einer abgeschmackt wohlwollenden und bürgerlichen Maßnahme. Wenn man sich an die Zulassung des Loskaufs durch uns klammert, so ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass man das ganze Wesen unserer Forderung besudelt (und solche Besudler werden sich für diese Operation mehr als genug finden).“

Zu dieser Stelle macht Lenin die folgende Bemerkung: „Durch die Zulassung der Ablösung degradieren wir die Rückgabe der abgetrennten Bodenstücke als revolutionäre Maßnahme zu einer Dutzend-,Reform“.“

Der Vorschlag Lenins wurde von allen übrigen Mitgliedern der Redaktion der „Iskra“ abgelehnt.

Später, bei der Besprechung des Artikels „Das Agrarprogramm der russischen Sozialdemokratie“, bemerkte Plechanow über die Ablösung: „Enteignung schließt Ablösung nicht aus, Ablösung schließt Enteignung nicht aus?“ Darauf erwidert ihm Lenin auf der Stelle:

,Enteignung' setzt gewöhnlich die Aufhebung des Eigentums voraus, d. h. die Wegnahme ohne Entschädigung“.

Der ins Programm aufgenommene Punkt über die Ablösung ist bedeutend verbessert im Vergleich zum ursprünglichen Programmentwurf, den Lenin im Auge hatte, als er seinen Verbesserungsvorschlag machte. Die Worte über die Ablösung „auf Kosten des adligen Großgrundbesitzes“ waren im ursprünglichen Entwurf nicht enthalten und wurden erst später eingesetzt. In einer Rede auf dem 3. Parteitage über die Frage der Unterstützung der Bauernbewegung erklärte Lenin: „Wir sind entschieden gegen jede Ablösung.“ [Ausgewählte Werke, Band 2]

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