Glossar‎ > ‎

Artikel Kautskys „Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution“

Der Artikel Kautskys „Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution“, von dem Lenin hier spricht, brachte die Ansichten Kautskys über die erste russische Revolution in jener Zeit am vollständigsten zum Ausdruck. Der Artikel war die Antwort auf eine Anfrage, mit der sich Plechanow an die hervorragendsten Sozialdemokraten Westeuropas wandte. Diese Rundfrage enthielt drei Fragen: 1. Welches scheint der allgemeine Charakter der russischen Revolution zu sein? Stehen wir da vor einer bürgerlichen oder einer sozialistischen Revolution? 2. Welche Haltung muss, angesichts der verzweifelten Versuche der russischen Regierung, die revolutionäre Bewegung zu unterdrücken, die sozialdemokratische Partei gegenüber der bürgerlichen Demokratie einnehmen, die in ihrer Weise für die politische Freiheit kämpft? 3. Welche Taktik soll die sozialdemokratische Partei bei den Dumawahlen verfolgen, um ohne Verletzung der Resolution von Amsterdam (d. i. des Kongresses der II. Internationale von 1904, die gegen das Zusammengehen mit der Bourgeoisie und den Ministerialismus gerichtet war) die Kräfte der bürgerlichen Oppositionsparteien zum Kampfe gegen unser „ancien regime“ (altes Regierungssystem) auszunutzen? Alle drei Fragen liefen auf den Wunsch Plechanows hinaus, eine Rechtfertigung der menschewistischen Taktik des Kompromisses mit den Kadetten zu erlangen. Plechanow hoffte, seinen Opportunismus durch die Autorität Kautskys decken zu können. Aber seine Hoffnung erfüllte sich nicht, da Kautsky damals in der Frage des Charakters der ersten russischen Revolution und ihrer Triebkräfte eine Stellung einnahm, die der Haltung der Bolschewiki nahekam. Er schrieb:

Das Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen, d. h. der Revolutionen, deren Triebkraft die Bourgeoisie bildete, ist abgeschlossen, auch für Russland. Auch dort bildet das Proletariat nicht mehr ein Anhängsel und Werkzeug der Bourgeoisie, wie das in den bürgerlichen Revolutionen der Fall war, sondern eine selbständige Klasse mit selbständigen revolutionären Zielen. Wo aber das Proletariat in dieser Weise auftritt, hört die Bourgeoisie auf, eine revolutionäre Klasse zu sein. Die russische Bourgeoisie, soweit sie überhaupt eine selbständige Klassenpolitik treibt und liberal ist, hasst wohl den Absolutismus, hasst aber noch mehr die Revolution, und sie hasst den Absolutismus vor allem deswegen, weil sie in ihm die Grundursache der Revolution sieht; und soweit sie nach politischer Freiheit verlangt, so geschieht dies vor allem deswegen, weil sie darin das einzige Mittel zu finden glaubt, der Revolution ein Ende zu machen. Die Bourgeoisie gehört also nicht zu den Triebkräften der heutigen revolutionären Bewegung Russlands, und insofern kann man diese nicht eine bürgerliche nennen.“

Kautsky zeigte dann, dass man die russische Revolution nicht eine sozialistische nennen kann, denn das russische Proletariat sei noch schwach und noch nicht so entwickelt, um seine, die proletarische Diktatur aufzurichten. Außerdem kann der Erfolg der Revolution unter der Bedingung der Unterstützung des Proletariats durch die Bauernschaft gesichert werden, und es ist nicht zu erwarten, dass der Bauer ein Sozialist wird. Nichtsdestoweniger kann die Revolution das Proletariat und die Sozialdemokratie au die Spitze des siegreichen Volkes stellen, und „ … die Sozialdemokratie tut sehr wohl daran, ihre Anhänger mit dieser Siegeszuversicht zu erfüllen, denn man kann nicht erfolgreich kämpfen, wenn man von vornherein auf den Sieg verzichtet.“ Diese letzten Worte Kautskys waren ein direkter Faustschlag ins Gesicht für Plechanow. Schließlich kam Kautsky in seinem Artikel zu der Schlussfolgerung, man müsse die russische Revolution „weder als bürgerliche Revolution im herkömmlichen Sinne, noch auch als sozialistische betrachten, sondern als einen ganz eigenartigen Prozess, der sich an der Grenzscheide zwischen bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaft vollzieht, die Auflösung der einen fördert, die Bildung der anderen vorbereitet und auf jeden Fall die ganze Menschheit der kapitalistischen Zivilisation um ein gewaltiges Stück in ihrem Entwicklungsgänge vorwärts bringt“. Deutsch erschien der Artikel Kautskys in der „Neuen Zeit“, Jahrgang 25, 1. Bd„ S. 284. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 3]

s. auch Vorwort zur russischen Ausgabe der Broschüre Karl Kautskys: „Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution" (Januar 1907)

Kommentare